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Projektbereich B


Rekonstruktion ritualdynamischer Prozesse in Kulturen der Vergangenheit


Der Projektbereich B umfasst überwiegend Projekte, die vergangene, nicht mehr der unmittelbaren Beobachtung zugängliche und daher nicht begehbare Kulturen in ihrer regionalen Verbreitung untersuchen: das alte Ägypten, Assyrien, das hellenistische und kaiserzeitliche Griechenland, das römische Reich und Westeuropa im hohen Mittelalter sowie Rajasthan (Indien) vom 18. bis 20. Jahrhundert, aber auch das mittelalterliche aschkenasische Judentum im (christlichen) Mitteleuropa (Deutschland, Frankreich, England). Es handelt sich um Kulturräume, in denen das überlieferte Quellenmaterial gerade wegen seiner Lückenhaftigkeit überschaubar ist und das Studium von Entwicklungen erlaubt, die sich über lange Zeiträume von Jahrhunderten (Griechenland, Rom, Rajasthan) oder gar Jahrtausenden (Ägypten) erstrecken. Die natürlichen Verfallsprozesse haben dazu geführt, dass das vorhandene Quellenmaterial überwiegend - keinesfalls ausschließlich - die öffentliche Performanz von Ritualen, ihre Funktion im öffentlichen Leben und die Rolle der Oberschichten, der politischen Führung oder der Alleinherrscher beleuchten, während die Rolle von Ritualen im Alltag breiter Volksmassen und der niederen Schichten schwer erschließbar ist. Das gemeinsame Ziel der Teilprojekte besteht darin, die Forschung von einer vorwiegend deskriptiven Behandlung von Ritualen und von der Bemühung um die Rekonstruktion ritueller Handlungsabläufe sowie den üblichen Ursprungserklärungen hin zur Erforschung jener Spannungen zu bewegen, die sich aus dem Fortbestand überlieferter Ritualpraktiken in einem institutionell, gesellschaftlich oder ideologisch weiter entwickelten Umfeld ergeben. Diese Gemeinsamkeiten in der Zielsetzung, aber auch in der Quellenlage, erklären eine Reihe von Gemeinsamkeiten in den theoretischen Grundlagen, in der Thematik und Methodik.
 
Theoretisch orientieren sich alle Teilprojekte überwiegend an Arbeiten über die kommunikative Funktion und die performativen Aspekte rituellen Handelns sowie an Studien über symbolische und kommunikative Handlungen im weitesten Sinne. Themen, wie die rituelle Performanz des Vater-Sohn-Verhältnisses für die Legitimation von Herrschaft in Ägypten (B9), der Beitrag von Ritualen zur öffentlichen Kommunikation in Griechenland und im römischen Reich (B2, B10), die privaten Rituale des assyrischen Königs und ihre Rolle bei der Heilsbewahrung und Unheilsbeseitigung (B3), und die rituelle und zeremonielle Bekleidung bei Herrschertreffen im hohen Mittelalter (B8) oder in Rajasthan (B5) setzen ein Verständnis von Ritualen als 'Sprache' voraus; besondere Aufmerksamkeit wird dem im Ritual vollzogenen Sprechakt gewidmet (B8 und B9). Die eher historisch orientierten Teilprojekte über die normativen Eingriffe in öffentlichen Ritualen (B2, B10) und über die Rituale des Herrschertreffens im Mittelalter (B8) sowie des Hofzeremoniells in Rajasthan (B5) orientieren sich an anthropologischen Paradigmen, insbesondere dort, wo strukturelle Analogien zwischen rites de passage und öffentlichen Ritualen der Ehrung (B9) und der Herrschaftslegitimation (B8, B5) zur Diskussion stehen.
 
Im Hinblick auf die Thematik lässt sich bei aller thematischen Vielfalt eine von der Quellenlage bedingte Fokussierung auf 'Rituale der Macht' feststellen: auf die rituelle Gestaltung der königlichen Erbnachfolge in Ägypten, die Sicherung der Macht durch Sprüche, Beschwörungen und Gebete in Assyrien, die Prägung hierarchischer Strukturen in den städtischen Gemeinwesen Griechenlands und des römischen Reiches, die Veränderung der kultischen Topographie spezifischer Heiligtümer durch Rituale der Macht, die paradigmatische Manifestation göttlicher und menschlicher Macht, das Treffen von Machthabern als Instrument politischer Herrschaft im Hohen Mittelalter und die Ritualveränderungen im vorkolonialen, kolonialen und nachkolonialen Rajasthan.
 
Wichtige Aspekte dieses Fragenkomplexes, die in mehreren Teilprojekten thematisiert werden, sind beispielsweise die Rolle von Experten von den ägyptischen Priestern und den "Ritualfachleuten" Assyriens bis zu den Verfassern normativer Texte in Griechenland und denjenigen, die Herrschertreffen im Hohen Mittelalter oder auch in Rajasthan organisierten, die Vermittlung von Rollenparadigmata durch das Ritual (z.B. die Rolle von Osiris und Horus als Vorbilder des Königs und des Kronprinzen), die Tradierung von Verhaltensnormen der Vergangenheit durch das Ritual und die durch das Ritual gefestigte kulturelle Erinnerung (vgl. B11).
 
Besondere Aufmerksamkeit gilt zwei Aspekten, die in einem Spannungsverhältnis stehen:
 
1) dem schriftlich fixierten präskriptiven Text und den veränderten Situationen (z.B. in Bezug auf das Weiterleben ägyptischer Ritualtexte unter den veränderten historischen Bedingungen des Neuen Reiches und der Spätzeit oder auch in Bezug auf die herleitbare Ritualdynamik von autochthonen Ritualreflexionen anhand Reinigungsritualen im mittelalterlichen Judentum),
 
2) den rituellen und ritualisierten Handlungsabfolgen einerseits und rational-pragmatisch geplanter Politik bzw. kritischen Rationalisierungstendenzen (vor allem in Griechenland und im Hohen Mittelalter).
 
Vor allem der zuletzt genannte Aspekt führt zu einer Frage, die eine vergleichende Betrachtung und einen transdisziplinären Austausch geradezu herausfordert: Gibt es eine spezifisch europäische Rationalität bei der Wahrnehmung rituellen und ritualisierten Verhaltens im Vergleich zu der Wahrnehmung von Ritualen in Ägypten, Mesopotamien oder Rajasthan?
 
Neben den genannten Fragestellungen befassen sich alle Teilprojekte auch mit dynamischen Transformationsprozessen. Ein wichtiger Gesichtspunkt in der diachronen Betrachtung von Ritualen ist der Ritualtransfer. Gemeint ist ein vielschichtiges Phänomen, das das Übertragen ritueller Handlungen in jeweils neue geographische, institutionelle oder politische Kontexte umfasst. In Ägypten wirken z.B. die Bestattungs- und Totenkultrituale in Ritualen der Herrschaft weiter; Rituale der Heilung und der Stabilisierung einzelner Privatpersonen fließen in die assyrischen Königsrituale ein; Ritualtransfer ist nicht nur in der Gestaltung griechischer Heiligtümer, sondern auch in den Herrschertreffen des Hohen Mittelalters zu beobachten.
 
Schließlich spielen die performativen Aspekte von Ritualen in allen Projekten eine wichtige Rolle. Es gilt, den konkreten performativen Kontext von Ritualen, die Aufgaben von und das Zwischenspiel zwischen Akteuren und Zuschauern, rituelle Inszenierungen und Ästhetisierungen und vor allem das Verhältnis zwischen Raum und Ritual zu untersuchen.
 
Das Verhältnis zwischen Raum (Architektur und Topographie) und Ritual in Ägypten, die ritualbedingten Eingriffe in griechische Heiligtümer, die Rekonstruktionen des lokalen Rahmens des römischen Triumphs und der rituellen Bühne für Herrschertreffen im Hohen Mittelalter hängen von Teiluntersuchungen ab, deren Resultate zu einer Theorie der Ritualtopographie und der Ritualgeographie beitragen können.
 
In methodischer Hinsicht erfordern alle Teilprojekte eine vollständige Erfassung des relevanten Quellenmaterials: Sammlung, textkritische Gestaltung, Übersetzung und Dokumentation der Befunde (altägyptische Ritualtexte, griechische Kultgesetze, ungedruckte Briefe, Rechnungen, Amtsbücher, höfische Protokolle, Einladungsschreiben usw. im Hohen Mittelalter und in Rajasthan). Texte stehen also im Mittelpunkt: literarische Nachrichten, in denen Rituale beschrieben werden (Ritualberichte und -erzählungen vor allem in Griechenland und im Hohen Mittelalter), Ritualvorschriften (präskriptive Texte vor allem in Ägypten, Assyrien und Griechenland, aber auch in Rajasthan und im aschkenasischen Judentum) und Ritualtexte (performative Texte in allen Kulturen). Darüber hinaus sind in allen Teilprojekten auch ikonographische und archäologische Zeugnisse (Bilddarstellungen, Architekturen, Räume) zu untersuchen (Heiligtümer, städtische Straßen und Plätze, Illustrationen des Hofzeremoniells). Die Komplexität der Zeugnisse erklärt die methodische Vielfalt: Die Methoden der Textkritik und Literaturtheorie müssen ebenso wie die kunsthistorische Analyse und die historische Kontextualisierung Anwendung finden. So setzt etwa die präzise Rekonstruktion ritueller Handlungsabläufe mehr als die textkritische und textanalytische Auseinandersetzung mit den Zeugnissen voraus. Beispielhaft zu belegen an solchen performativen Texten (Hymnen, Rezitationstexte, magische Formel usw.), die einen wesentlichen Teil der zur Verfügung stehenden Quellen ausmachen. Die Methoden der modernen Literaturwissenschaft und Narratologie können für die Rekonstruktion konkreter Kommunikationssituationen fruchtbar gemacht werden.
 
Die historische - insbesondere kulturhistorische und sozio-politische - Kontextualisierung der Überlieferungen über Rituale ist eine der wichtigsten Aufgaben für alle Teilprojekte. Der konkrete historische Kontext des Vollzugs von Ritualen, der sich mit Hilfe von Texten bestimmen lässt (z.B. Königsinschriften in Assyrien, mittelalterliche Chroniken, Inschriften in Griechenland, Inschriften des aschkenasischen Judentums) ist von zentraler Bedeutung für die Untersuchung der Spannungen zwischen Normativität (Skript) und Performanz, die alle Teilprojekte charakterisiert. Da in diesem Projektbereich Rituale nicht als Relikte alter Zeiten, sondern als Bestandteile des öffentlichen Lebens untersucht werden, lässt die Analyse konkreter Ritualkontexte neue Erkenntnisse erhoffen. Die genaue Bestimmung des Kontextes lässt z.B. in Assyrien und Griechenland das Bedürfnis erkennen, ein alttradiertes Ritual einer bestimmen Situation anzupassen - ein Bedürfnis, das zuweilen zur Veränderung normativer Texte und zur Einführung/Erfindung ganz neuer Rituale führt. So kann als gemeinsamer Nenner der Teilprojekte die Leitfrage gelten, auf welche Weise Rituale und Ritualisierungen am Wandel des Beständigen beteiligt sind.