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Projektbereich C


Ritualtransfer in den Gesellschaften Europas und des Vorderen Orients

Die rituellen Handlungskomplexe der C-Projekte sind ausnahmslos Produkte der modernen Kultur und gehören, ungeachtet ihrer weiter zurückreichenden historischen Voraussetzungen (Rekursivität) zur Welt des 21. Jahrhunderts. Die Projekte C2 (Online-Religion) und C8 (ritualisierter Konsum von Psychoaktiva) haben ihre Forschungsfelder darüber hinaus in der unmittelbaren Gegenwart abgesteckt, was ihnen Anlass gibt, gemeinsam über methodische Objektivierungsstrategien nachzudenken. Projekt C10 fokussiert gar "Rituale ohne Performanz" - beispielsweise in Film und Literatur dargestellt.

Eine sachbezogene, fächerübergreifende Gemeinsamkeit beinahe aller Teilprojekte lässt sich mit dem Begriff des Ritualtransfers verbinden. Im Rahmen des gesamten Projektbereichs C geht es - so ist diese Tatsache zusammenzufassen - um das vor allem vom politisch-historischen Wandel veranlasste Übertragen/Verschieben traditioneller (C2) sowie fremdkultureller (C2, C8) Rituale und Ritualisierungsmuster von einer soziokulturell relativ genau bestimmbaren in eine offene Lage, in eine Situation, die im Sinne der soziokulturellen Homöostase noch nicht konsolidiert ist und sich mithin einer empirisch tragfähigen Definition entzieht. Die Übertragung aus einem relativ bestimmten normativen und institutionell verlässlichen Kontext in eine gleichsam noch konturenlose Sozialwelt führt zu jenen Veränderungen rituellen Handelns, die das Schlüsselwort Ritualdynamik beschreiben will. Das gilt für die Wanderungen traditioneller Freimaurerrituale (C1), für die metamorphosenreiche Gestaltung ritualisierter Internetreligiositäten (C2), für den Import exotischer Rituale in die gegenwärtige Jugendsubkultur (C8) und für Ritualtransfer über Mediengrenzen wie Film und Literatur.
 
Eine Ausnahme scheint C11 zu bilden, ein medizin-psychologisches Projekt, das Familien- und Organisations-Aufstellungen als Handlungskomplexe der postmodernen Gesellschaft, die sich in traditionell-konservativen Ethiksystemen verorten, fokussiert. Aufstellungen sind therapeutisch-beraterische Interventionen, in denen interpersonelle Beziehungen räumlich und symbolisch durch Repräsentanten inszeniert und durch Umpositionierungen sowie rituelle Sprechakte in positive "Lösungsbilder" transformiert werden. Die Logik der Aufstellungen folgt dabei postulierten "Ordnungen", denen sich soziale Systeme angeblich unterwerfen müssen.
 
Im Zusammenhang dieses Teilprojekts tauchen Fragen auf, die durchaus auch für andere Projekte - z.B. für C7 - von Bedeutung sind. Hat - um nur eine der zentralen Fragen herauszugreifen - die tiefgreifende Krise, die durch den ideologischen, politischen und materiellen Bruch ausgelöst wurde, geradezu ein Bedürfnis, ja ein therapeutisches Verlangen nach einem grundlegend veränderten (nicht kontaminierten) normativen Kontext geweckt?
 
Wie in anderen Projektbereichen verlangt auch in C die Wechselbeziehung zwischen Skript und Performanz ein besonderes Augenmerk. Das gilt für alle Einzelprojekte, die ihre Zeugnisse aus Textarchiven, Vorschriften, Satzungen, Gründungsschriften, Regelbüchern, aber auch aus Bildarchiven beziehen. Ausnahmen sind die Projekte C2 und C8, ersteres wegen der Eigenart der nichtlinearen Text-Bild-Konfigurationen, letzteres wegen der Umkehrung des Forschungsprozesses von der Performanz zur Aufdeckung und Beschreibung (mehr oder weniger diskreter) Überlieferungen, die sich verschiedener medialer Praktiken bedienen (Schrift, Bild, Symbol oder des mündlichen Transfers z.B. während des Peyote- oder Ayahuasca-Rituals). In dem bereits abgeschlossenen Teilprojekt C6, über den Wandel der rituellen Abendmahlsfeier, ist das erwähnte Wechselspiel aufs engste mit den Prinzipien religiöser Ritualistik verknüpft. Und zugleich berührt die hier thematisierte Vermittlung zwischen "Wort" und "Handlung" eine der Grundlagen des Performativen, nämlich die Ausübung der Handlung im Vollzug des (rituellen) Sprechakts. Die damit angesprochene Problematik taucht wieder in anderen Teilprojekten des C-Bereichs auf: in den Bemühungen religiöser und arkaner Gruppen (C7), die Gestalt und zugleich Wirksamkeit der rituellen (verbalen und nonverbalen) symbolischen Akte einem von außen auferlegten Wandel anzupassen suchen.
 
Allen C-Projekten liegt eine zentrale Fragestellung zugrunde, die eine gemeinsame komparatistische Anstrengungen verlangt: Welche Bedeutung haben die jeweiligen rituellen Handlungen - auch wenn diese als selbstreferenziell aufzufassen sind - für die Sinnhaftigkeit der involvierten Sozialwelt? In allen Teilprojekten stehen kulturelle und soziale Werte im Mittelpunkt: z.B. Zugang und Zugehörigkeit zu einer Elite (ehemals C1, C2), Respekt vor den Opfern und Reinigung von eigener Schuld (C9), Aufrechterhaltung kultureller Identität (C7) und das Bedürfnis nach ingroup-Anerkennung (C8).
 
Die meisten Rituale und ritualähnlichen Praktiken der C-Projekte besitzen im Vergleich zum Traditionstyp Ritual eine neue Qualität. Galten und gelten Rituale als Garanten des eigenkulturellen Traditionalismus, so zeichnen sich die ausgewählten Ereignisse durch transkulturelle Eigenschaften aus: Sie stammen aus Diasporakulturen (C9), mitunter aus Mythen- und schamanischen Stammesüberlieferungen (C2), aus transnationalen Geheimbünden (C1), aus einem Bereich kosmopolitischer Wertrationalität (C9) und behaupten Kulturwerte von zeitüberdauernder Weltgeltung. Solche transkulturellen Werte besitzen Ansehen in ökonomisch gut gestellten sozialen Milieus, die ihre Lebensstile nicht mehr allein an eigenkulturellen Traditionen orientieren und dennoch auf Rituale und Ritualisierungen nicht verzichten können. Ritualdynamik erhält in dieser Perspektive eine neue Bedeutung: Der Begriff steht für einen kulturellen, die Polyvalenz rituellen Handelns steigernden Synkretismus, der nicht nur die "alten" Vorstellungen vom dauerhaften, repetitiven Ritual korrigiert, sondern Rituale und Ritualisierungen auch als Komponenten in der Gestaltung sozial verpflichtender Lebensstile zur Erscheinung bringt.