Wolfgang-Peter Zingel
Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik
 

Afghanistan, Pakistan, Kaschmir: Gefahren einer Ausweitung des Konflikts in Südasien
Beitrag zur Podiumsdiskussion "Keine Macht dem Terror" der Hochschulpolitischen Gruppe der "Grünen" am 19.10.2001 in der Universität Heidelberg
 

Meine Damen und Herren,

ich bin Volkswirt und beschäftige mich der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Ländern Südasiens. Was könnte ich also zur aktuellen Diskussion der Terroranschläge in den USA und zum Krieg in Afghanistan beitragen? Zumal in den letzten Wochen zu diesem Thema so viel Kompetentes in allen Medien gesagt wurde. Nach den Beiträgen von Frau Angelika Köster-Lossack und Herrn Winfried Nachtwei möchte ich mich auf drei Aspekte konzentrieren:

1. Die problematischen Verallgemeinerungen: Die unzulässige und zurecht kritisierte Gleichsetzung von Osama bin Laden, seiner Al-Qaeda, den Taliban, den Pashtunen, Afghanistan oder gar den Muslimen.

2. Die wirtschaftlichen und strategischen Gründe der Unterstützung der Taliban durch die USA und Pakistan.

3. Die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts in Südasien.

Die Beschränkung auf diese Aspekte bedeutet nicht, daß ich mir der Ungeheuerlichkeit des Themas Terrorismus und der Ereignisse des 11. September und danach nicht bewußt wäre. Ich will die Terrorakte in den USA auch nicht relativieren. Mein Beitrag zielt vielmehr darauf ab, einige der Implikationen des Kriegs in Afghanistan für die Zukunft aufzuzeigen. Ich kann keine Lösungen anbieten; mögliche Ansätze werden wir anschließend Gelegenheit zu diskutieren haben.
 

1. Problematische Verallgemeinerungen

Die amerikanische Kriegserklärung gilt dem Terror, den Terroristen und ihren Helfern, personifiziert durch den aus Saudi-Arabien stammenden Osama bin Laden und die ihn beherbergenden muslimischen, pashtunischen Taliban in Afghanistan. Die USA bemühen sich, etwa durch den Abwurf von Notrationen, anzuzeigen, daß es sich nicht um einen amerikanisch-afghanischen Krieg handelt. Es ist ihnen aber noch nicht gelungen deutlich zu machen, wen sie letztendlich in Afghanistan an die Macht bringen wollen. Die Nordallianz klagt bereits, daß die USA ihnen die zur Eroberung Kabuls notwendige und erhoffte Luftunterstützung verweigern würden. Hinter der zögerlichen Haltung der USA steht wahrscheinlich, daß sie einen erneuten Bürgerkrieg nach dem Fall der Taliban verhindern wollen: Die Taliban rekrutieren sich nämlich fast ausschließlich aus der Volksgruppe der Pashtunen, die in der sog. Nordallianz nicht vertreten ist (Karte 1). In Erinnerung ist zu rufen, daß Kabul erst lange nach dem Abzug der Sowjets von Afghanen in Schutt und Asche gelegt wurde, als sich die verschiedenen Mujahiddin-Gruppen nicht auf eine gemeinsame Regierung einigen konnten. Noch weniger, als es sich bei den amerikanischen Angriffen um einen amerikanisch-afghanischen Krieg handelt, handelt sich um einen "Zusammenstoß" (clash) der Kulturen, wie ihn der amerikanische Historiker Samuel Huntington beschreibt, einen "Zusammenstoß", der sich entlang der "Verwerfungslinien" (default line) etwa zwischen der (protestantisch/katholischen) christlichen und der muslimischen Welt entwickeln könnte/würde. Leider Gottes ist bisher zu wenig getan worden, um dieses Mißverständnis auszuräumen. Bei den weniger gut informierten in aller Welt ist das verhängnisvolle Wort vom Kreuzzug hängen geblieben. Ein solcher Eindruck wäre fatal, zumal wir in der NATO verbündeten Europäer heute aus gutem Grund ein distanziertes Verhältnis zu den Kreuzzügen des Mittelalters haben. Ebenso bedeutend ist die Tatsache, daß sich die ummah, die Gemeinschaft der Gläubigen, der Muslimen, nicht im jihad, im heiligen Krieg gegen die Christen der Industrieländer befindet, auch wenn einzelne religiöse und politische Führer dazu aufgerufen haben.

Die Taliban sind aus afghanischen Flüchtlingskindern, häufig Kriegswaisen, hervorgegangen, die mit ihren Familien nach Ausbruch des Bürgerkrieges (1978) und der sowjetischen Invasion (1979) nach Pakistan flüchteten, dort in Lagern lebten, und ihre Heimat und meist einzige Schulbildung in den Medressen, d.h. Koranschulen, fanden. Manche der Taliban wurden in Pakistan als Kinder von Afghanen geboren, etliche sind Pakistani. Ohne die Unterstützung Pakistans, aber auch der USA, wäre den Taliban kaum ihr Siegeszug in Afghanistan gelungen.
 

2. Wirtschaftliche und strategische Gründe

Das Interesse des Auslands an Afghanistan ist vor allem wirtschaftlicher und strategischer Art, und zwar in indirekter Weise. Afghanistan besitzt, soweit bekannt, keine bedeutenden Bodenschätze außer Erdgas. Dies wurde bis zur Zerstörung der Pipeline im Bürgerkrieg von den Sowjets gefördert und in die Sowjetunion exportiert. Soweit bekannt, findet zur Zeit keine Förderung statt. Nördlich von Afghanistan, in Zentralasien, befinden sich aber die nach den Vorkommen in Südwestasien größten Erdöl- und Erdgasfelder der Welt. Das Problem ist der Transport in die prospektiven Abnehmerländer, d.h. nach Europa, die USA, Japan, China und Indien. Der kürzeste und billigste Weg, zumal in die USA, wäre durch Pipelines zum Arabischen Meer und dann weiter per Schiff. Wegen der nach wie vor gespannten Beziehungen scheidet der Iran als Transitland aus. Es ginge also nur durch Afghanistan und weiter durch Pakistan. Nachdem die Sowjets aus Afghanistan abgezogen waren, gelang es aber keiner der Bürgerkriegsparteien, das ganze Land zu kontrollieren. Der von Pakistan und den USA favorisierte und unterstützte Hekmatyar konnte sich nicht durchsetzen, das Land verfiel in Chaos, kontrolliert von örtlichen Befehlshabern, die sich im ständigen Kampf miteinander befanden und einen geregelten Handel zwischen Pakistan und Zentralasien unmöglich machten. Nach ersten Erfolgen der Taliban übertrugen Pakistan und die USA ihnen die Unterstützung. Die Taliban kontrollierten tatsächlich in kürzester Zeit fast ganz Afghanistan, allerdings nicht mehr durch kampflosen Anschluß lokaler Führer, wie im Siedlungsgebiet der Pashtunen, sondern zunehmend erst durch erbitterte Kämpfe. In dem Maße, wie die nach wie vor international anerkannten afghanische Regierung, die sogenannte Nordallianz, auf ein immer kleineres Territorium zurückgedrängt wurde, erhielt sie verstärkt Unterstützung von außen, vor allem von Rußland, den zentralasiatischen Staaten der GUS, Iran und Indien. Die von den Taliban praktizierte Auslegung des Koran ist nach Ansicht von Islamgelehrten in aller Welt nicht akzeptabel; die Vorschriften für das tägliche Lebens, zumal für die Frauen, und die drakonischen Strafen führten zu entsetzten Reaktionen, vor allem in Europa und den USA. China sah sich durch die Unterstützung der muslimischen Uiguren in Singkiang herausgefordert. Das ist von Bedeutung, weil China der treueste Verbündete Pakistans ist.

Hier zeigt sich, daß die alte politische Weisheit, daß der Feind des Feindes ein Freund sei, in einer Dreiecks-Konstellation nicht gilt. China hat übrigens hohes Interesse an den zentralasiatischen Energievorkommen, ist aber nicht auf den Transit durch Afghanistan und Pakistan angewiesen, da es direkt an Zentralasien grenzt.

Indien, einer der potentiell größten Energieimporteure der Zukunft, hat Pakistan hohe Transfergebühren für eine Pipeline nach Zentralasien oder Iran angeboten. Indiens wirtschaftliche Interessen (nämlich an einer Pipeline durch Taliban-Gebiet) steht somit in direktem Gegensatz zu seinen strategischen Interessen (deshalb die Unterstützung der Nordallianz).

Die Briten entließen 1947 Indien, ihr "Juwel in der Krone", nicht ohne es zuvor zu teilen. Der so entstandene neue Staat Pakistan bekam eine Form, die sich keiner seiner Protagonisten so gewünscht hatte. In der Folge wurde auch Kaschmir geteilt, wenn nicht de jure, so doch de facto, bis heute ist es Zankapfel zwischen den beiden neuen Nuklearmächten Indien und Pakistan (Karte 2).

Pakistan sieht sich durch die Konstellation nach dem 11. September in seiner ärgsten Krise seit dem Bürgerkrieg im früheren östlichen Landesteil, dem sich anschließenden Krieg mit Indien und dem Verlust Ostpakistans, des heutigen Bangladesh (1971). Die Krise rührt aus dem Streit zwischen Pakistan und Indien um Kaschmir her, der in dem halben Jahrhundert seit der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans (1947) zu mehreren Kriegen (1947-49, 1965, 1971, 1999) geführt hat. Da die beiden unversöhnlichen Nachbarn über Atomwaffen verfügen, sprach Präsident Clinton vom "gefährlichsten Ort der Welt".

Das Thema Terrorismus ist für Südasien nicht neu: Seit 1989 wütet in Kaschmir ein Bürgerkrieg, bei dem es sich nach pakistanischer Lesart um einen Aufstand muslimischer Kashmiri handelt, die ihre Zukunft selbst bestimmen wollen. Nach indischer Lesart handelt es sich aber um von Pakistan gesteuerten Staatsterrorismus. Die indische Regierung hat sich immer wieder darum bemüht, daß Pakistan als terroristischer Staat deklariert und mit den einschlägigen Sanktionen belegt wird.

Indien beklagt nicht nur die Unterstützung der Aufständischcn in Kaschmir durch Pakistan durch Waffenlieferungen, Training und Rückzugsmöglichkeiten, sondern auch den Einsatz regulärer pakistanischer Soldaten und Entsendung/Duldung von "ausländischen Terroristen".

Unstrittig scheint zu sein, daß Angehörige dritter Staaten, z.B. Araber und Afghanen, in Kaschmir auf Seiten der mulimischen Aufständischen kämpfen. Auch in dieser Auseinandersetzung gilt der Satz, daß des einen Terrorist des anderen Freiheitskämpfer ist.

Das besondere daran in Südasien ist zum Einen, daß hier zwei heftig verfeindete Nuklearmächte direkt aneinander grenzen und das Grenzgebiet zum Teil auch noch sehr dicht besiedelt ist. Beide Staaten befinden sich aber im neuen Afghanistan-Krieg aber auf derselben Seite. Beide Regierung haben sich erst einmal deutlich hinter die USA gestellt, beide sind aber mit verbreiteter Ablehnung der Aktionen der USA konfrontiert.

Das strategische Dilemma besteht darin, daß sich Pakistan seit seiner Unabhängigkeit von seinen beiden wichtigsten Nachbarn, Indien und Afghanistan, existentiell bedroht sieht. Im Falle Indiens leitet sich diese Angst aus der Ablehnung der von Pakistans "Vater der Nation" Mohammad Ali Jinnah verkündeten Zwei-Nationen-Theorie ab, nach der die Muslimen und Hindus Indiens eigene Nationen darstellen würden. Zugleich lehnt Pakistan Indiens Anspruch auf den einstigen selbständigen Fürstenstaat Jammu und Kaschmir ab.

Entlang der Grenze zu Afghanistan leben auf beiden Seiten Pashtunen. Die Trennlinie von 1893 entstammt einer Zeit, als Indien und Afghanistan unter britischer Herrschaft respektive Oberhoheit standen. Nach der Unabhängigkeit Pakistans erhob Afghanistan Anspruch auf "Pashtunistan", d.h. die Gebiete rechts des Indus, und stimmte gegen Pakistans Aufnahme in die Vereinten Nationen. Die Beziehungen verschlechterten sich nach der sowjetischen Invasion, als Pakistan zum "Frontstaat" in der letzten Phase des Kalten Krieges wurde. Der Machtanspruch des pakistanischen Militärs resultiert aus dieser Bedrohungsperzeption, die von der Bevölkerung geteilt wird. Die befreundeten Taliban an der Macht in Afghanistan bedeuteten für Pakistan eine Bedrohung weniger und einen Gewinn an "strategischer Tiefe" gegenüber Indien.
 

3. Die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts in Südasien

Der Konflikt droht die verfeindeten Atommächte Pakistan und Indien mit hineinzuziehen, die sich seit mehr als einem halben Jahrhundert um Kaschmir streiten, und mit ihren Artilleriegefechten im Abschnitt Kargil im Sommer 1999 den Beweis lieferten, daß das Konzept der nuklearen Abschreckung nicht mehr trägt. Unter den geographischen Gegebenheiten direkter Nachbarschaft besteht die Gefahr von Fehleinschätzungen konventioneller Angriffe und terroristischer Akte, die bei einer Reaktionszeit von wenigen Minuten zu nuklearen Konter- oder -- prophylaktisch -- zu Präventivschlägen führen könnten. Damit hat der Konflikt eine weit über die Region herausragende Bedeutung.

Indien und Pakistan werfen sich wechselseitig Terrorismus vor. Kaum ein Anschlag oder Attentat, von denen es in beiden Staaten viele gibt, der nicht dem Geheimdienst des Nachbarstaates angelastet wird. So auch bei der Entführung eines indischen Flugzeuges nach Kandahar in Afghanistan oder dem letzten großen Bombenanschlag auf das Parlament in Srinagar in Kaschmir.

Die neuerliche Freundschaft der USA mit Pakistan ist wieder einseitig von den strategischen und Interessen der USA bestimmt. Wie in den sechziger und achtziger Jahren ist sie mit viel Geld erkauft, nachdem sich wieder ein General an die Spitze des Staates geputscht und selbst zum Präsidenten erhoben hat.

Diese Konstellation ist den Bürgern Pakistans durchaus bewußt, auch wenn sie illiterat sein sollten. Terror ist für sie nichts Neues. In Karachi, der größten Stadt des Landes gab es in den letzten Jahren bis zu 2000 politisch motivierten Morden. In Kaschmir wird die Zahl der Opfer des Bürgerkrieges auf mehrere Zehntausend beziffert.

Was bedeutet das für unsere Diskussion? Auch wenn der derzeitige Konflikt seine Ursachen in Arabien und den USA haben sollte, könnte er sich zu einem Sprengsatz nicht nur für Pakistan sondern auch für Indien entwickeln, da sich Indiens 140 Millionen Muslimen in solchen Momenten wieder in ihrer Loyalität angezweifelt sehen.

Abschließend noch ein Wort zu unseren Optionen: Unsere Sorge gilt zuerst einmal denjenigen Menschen, die in den Konflikt ohne eigenes Zutun zutun verwickelt und den Kampfhandlungen ausgesetzt sind. Wir wissen von der langen Dürre in Afghanistan, dem bevorstehenden Winter und der katastrophalen Versorgungslage. Wir müssen aber auch darauf hinarbeiten, daß kein weiterer politischer Schaden angerichtet wird. Es wird schwierig sein, in Kabul eine allseits anerkannte und möglichst auch demokratische Regierung an die Macht zu bringen. Afghanistan hatte in der Vergangenheit keine starke Zentralmacht. Vielleicht wäre es eine Hilfe darauf zu verzichten, eine der kriegsführenden Parteien mit aller Gewalt an die Macht helfen zu wollen, schon um den Verdacht auszuräumen, daß es letztlich nur um wirtschaftliche Interessen geht.

In Pakistan haben wir eine Militärregierung, die angefangen hat, sich gegen die Islamisten zu stellen. Das mag willkommen sein, eine Konfrontation zwischen einer Militärregierung und den Islamisten birgt aber unkalkulierbare Gefahren für die innere Sicherheit, wie sich in Algerien gezeigt hat. Noch schlimmer wäre es, wenn die politischen Parteien Pakistans in diese Auseinandersetzung hineingezogen würden. Die Führer aller drei großen Parteien befinden sich im Exil und bereiten sich auf ihre Rückkehr vor. Das Oberste Gericht hat die Militärregierung zur Abhaltung von Parlamentswahlen spätestens im Herbst 2002 verpflichtet. Das Ausland ist sicher gut beraten, sich aus der Parteipolitik und dem Wahlkampf herauszuhalten, zumal die politischen Auseinandersetzungen mit aller Härte geführt werden.
 

Ausblick

Was bleibt als Ausblick? Eine Prognose der weiteren Entwicklung will ich nicht wagen. Ich wollte nur auf einige Gefahren hinweisen, die von der gegenwärtigen Krise für Südasien drohen: In dem Maße, wie die drei Krisenherd Afghanistan, Pakistan und Kaschmir zusammenwachsen, droht der Konflikt nämlich zu eskalieren.Anmerkungen.

Karten:

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