Wolfgang-Peter Zingel
Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik

Umweltpolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel in Indien

In: Günter Schucher (Hrsg.): Asien zwischen Ökonomie und Ökologie. Wirtschaftswunder ohne Grenzen? Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg, Nummer 295. Hamburg: Institut für Asienkunde. 1998. pp. 68-82.

Aufgabenstellung

Diese Tagung beschäftigt sich mit einem Wunder, nämlich dem Wunder des rasanten wirtschaftlichen Aufstieg Asiens, genauer einiger Staaten Ost- und Südostasiens. Die damit verbundene Frage, ob dieses Wirtschaftswunder ohne Grenzen sei, drückt weniger Hoffnung als Befürchtung aus: was wird mit uns geschehen, wenn Asiens Wirtschaft sich weiterhin wundersam entwickelt? Steht dahinter nicht die Vorstellung eines Nullsummenspiels, daß nämlich der Erfolg des einen Landes zu Lasten eines anderen gehen muß. Eine Frage, die wir uns weniger gestellt haben, als Wirtschaftswunder noch ein Begriff war, der für die junge Bundesrepublik stand. Heute ist die aktuelle Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland von Ängsten vor der Konkurrenz der neuen Wirtschaftswunder-Länder geprägt. Zumal bisher nur ein Teil Asiens derartige Wunder zu vermelden hat; in Südasien etwa sind die Erfolge bisher bescheidener ausgefallen: Indien hat den Kampf der Systeme, in dem einst Marktwirtschaft gegen Planwirtschaft und eine freiheitliche, dezentrale, demokratische Ordnung gegen die Diktatur des Proletariats und zentrale Kommandowirtschaft standen, in puncto Wirtschaft bisher nicht für sich entscheiden können. Und mancher mag hin und her gerissen sein, ob er dem indischen System Erfolg wünschen oder weitere asiatische Konkurrenz fürchten soll.

Seit dem Bericht des Club of Rome [Meadows 1972] stehen "Grenzen" im wirtschaftlichen Kontext für die "Grenzen des Wachstums", eine Diskussion, die heute unter dem Leitmotiv "Nachhaltigkeit" oder englisch sustainability weitergeführt wird. Es geht um die Frage, ob wirtschaftliches Wachstum heute zu Lasten wirtschaftlichen Wachstums morgen gehen darf. Der im Thema angelegte Gegensatz von Ökonomie und Ökologie ist aber ein definitorischer: er besteht nur, wenn Ökonomie für die Verfolgung kurzfristiger und Ökologie für die Verfolgung langfristiger Ziele stehen. Auf Asien bezogen hieße das, daß sich der Kontinent um dem zweiten Teil des Mottos dieser Tagung Rechnung zu tragen zwischen Ökonomie und Ökologie entscheiden müsse. Man könnte das Thema auch so interpretieren, als ob wir uns einer Konkurrenz erwehren müßten, die sich der Ökonomie verschrieben hat und uns, die wir einsichtiger und längerfristig planen, die Umsetzung ökologischer Einsichten erschwert.

Eine ganz andere Sichtweise haben die VertreterInnen des Ökofeminismus: ausgehend von der Überzeugung, daß es die Frauen sind, die unter den Umweltbeeinträchtigungen am meisten zu leiden haben. Ihnen liegt die Ökologie mehr am Herzen als den Männern, die -- in dieser Sichtweise -- der Ökonomie die Priorität einräumen [B. Agarwal 1994; Batliwala 1994].

Ich habe es übernommen, ein Fallbeispiel zu diesem Fragenkomplex zu untersuchen. Mein Thema lautet "Umweltpolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel in Indien"; es geht also nicht um grundsätzliche theoretische Erwägungen, sondern um die tatsächlichen staatlichen Aktivitäten eines Landes im Umweltbereich und ihre Wechselwirkungen mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel.

Ich werde mich zuerst dem Begrifflichen zuwenden und dann versuchen, der üblichen Einteilung wirtschaftlicher Aktivitäten folgend, herauszuarbeiten, inwieweit diese die natürliche Umwelt betreffen, die entsprechenden staatlichen Politikbereiche nennen und schildern, was in diesen Bereichen geschehen ist, derzeit geschieht und voraussichtlich geschehen wird oder geschehen sollte. Den wirtschaftlichen Strukturwandel Indiens werde ich skizzenhaft nachzeichnen, schließlich versuchen aufzuzeigen, welche konditionalen Aussagen sich für verschiedene Szenarien treffen lassen.

Die Aussagen lassen sich kaum quantifizieren. Da Umweltpolitik in Indien nach der Verfassung von 1950 zu einem großen Teil Sache der Unionsstaaten ist (Art 246: 7th Schedule, State List, Nr. 14-23), wäre eigentlich eine detaillierte Untersuchung für jeden einzelnen Unionsstaat erforderlich, die ich aber in der Kürze der Vorbereitungszeit nicht leisten konnte.

Begriffsbestimmung

Wenn im Folgenden von Umweltpolitik die Rede ist, so handelt es sich um erklärte und/oder durchgeführte Maßnahmen, die zum Schutze der Umwelt vorgenommen werden. Unter "Umwelt" soll die natürliche Umwelt verstanden werden. Für den Ökonomen ist die Umwelt eine Ressource, die wir nutzen, aber auch bewahren, um sie später nutzen zu können. Das ist keineswegs eine neue Einsicht. Die Klassiker der Nationalökonomie summierten all das, was wir heue Umwelt nennen, unter "Boden", einer der drei primären Produktionsfaktoren (die anderen beiden waren Kapital und Arbeit). Im Englischen sprachen sie von land (und nicht von soil), was zu keiner begrifflichen Konfusion führen sollte. Zu Boden oder land war im weitesten Sinne auch all das zu zählen, was unter und über der Erde war. Dabei unterschieden sie sehr wohl (z. B. Ricardo) zwischen dem Boden als solchem und den von Menschen vorgenommenen Verbesserungen. Ein weiterer Begriff, der oft synonym zur Umwelt verwendet wird, ist der der Natur. Ökonomen sprechen deshalb auch von Naturkapital, dessen Verbrauch in neueren Ansätzen der Sozialproduktsberechnung, auf die ich hier leider nicht eingehen kann, berücksichtigt wird [SNA 1993]. Damit wird Politikern die Möglichkeit genommen, sich mit Wachstumsraten zu brüsten, die allein durch Naturverbrauch zu standegekommen sind.

Es geht also um natürliche Ressourcen: erneuerbare und nicht-erneuerbare; diese Ressourcen werden durch Entnahme und anschließende Veränderung oder durch Einleitung von Schadstoffen in Anspruch genommen. Die Unterscheidung von erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Ressourcen orientiert sich am Planungshorizont der Menschen: Ressourcen gelten als erneuerbar, wenn sie sich innerhalb eines Zeitraums von allenfalls einigen Generationen regenerieren, nicht aber wie im Falle der fossilen Brennstoffe in wesentlich längeren Zeiträumen. Typische erneuerbare Ressourcen wären der Wald, der Fisch- und Wildbestand; nicht-erneuerbare Ressourcen wären Pflanzen- und Tierarten, fossile Brennstoffe, Erze oder Minerale.

Schadstoffe können alle Aggregationszustände annehmen, also flüssig sein wie Altöl, gasförmig wie Stickstoff, oder fest wie Schwermetalle; Einleitungsmedien sind etwa Boden, Wasser und Luft. Die Umwelteinwirkungen können standortgebunden und -ungebunden sein; vielfach sind sie indirekter Art, wie noch zu zeigen sein wird.

Zur Umweltpolitik wären alle Maßnahmen zu zählen, die gezielt auf die wie immer definierte Umwelt einwirken. Diese Maßnahmen können dem ganzen breiten Spektrum staatlicher Einflußnahmeversuche entstammen: das sind für den Ökonomen etwa die Ordnungspolitik mit ihren Geboten und Verboten, die Markt- und Preispolitik mit ihrer Regulierung von Preisen und Mengen, aber auch Anreizsysteme oder Aufklärung. Wichtig sind die Konstanz und Verbindlichkeit der Politik. Aktoren der Politik finden sich auf allen Ebenen; gerade in Indien kommt neben der Politik der Rechtsprechung eine wichtige Rolle zu.

Unter Strukturwandel sind schließlich Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialstruktur zu verstehen, etwa Veränderungen in der Zusammensetzung der Produktion, der Beschäftigung oder des Außenhandels. Wie noch zu zeigen sein wird, sind diese seit der Unabhängigkeit sehr ausgeprägt gewesen.

Ressourcennutzung in Indien

Der größte Teil der Ressourcennutzung findet in der Produktion statt, und da Indien noch immer ein Agrarland ist, in der Landwirtschaft; hier haben wir auch nach wie vor die gravierendsten Umweltprobleme. Wichtigste Ressourcen sind Boden, Wasser und das genetische Potential in der Pflanzen- und Tierwelt. Wie schwierig es ist, eine Ressource zu beschreiben, soll die nachfolgende Definition der Ressource Boden (im Sinne von soil) zeigen:

"Der Boden ist die belebte oberste, oft nur wenige Dezimeter bis einige Meter starke Verwitterungsschicht, das klimabedingte, petro- und biogene Umwandlungsprodukt der festen Erdrinde. Unter dem Einfluß von Lithosphäre, Atmosphäre, Hydrosphäre und Biosphäre wird der Boden (Pedosphäre) aus der festen Erdrinde gebildet. Die Gesteine als anorganisches Ausgangsmaterial der Bodenbildung sind unter dem Einfluß der Atmosphärilien Sonne, Wasser, Wind und Frost sowie der menschlichen, tierischen und pflanzlichen Tätigkeit einer ständigen Umwandlung unterworfen. Das Produkt dieser Gesteinsumwandlung, durchsetzt mit abgestoßener organischer Substanz, Organismen, Luft und Wasser, wird Boden genannt. Dabei sind der Gehalt an organischer Substanz und die Organismentätigkeit für den Boden charakteristisch und unterscheiden ihn von einer rein geologischen lockeren Anhäufung von Gesteinsbruchstücken. Daher bezeichnet Walter L. Kubiena den Boden als "das von Leben und den besonderen Umweltverhältnissen eines biologischen Standortes entstandene und einer charakteristischen Entwicklung unterworfene Umwandlungsprodukt der festen Erdrinde."" Fritz Scheffer: Bodenkunde. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 2. pp. 325-335 ( hier: p. 325).

Die Probleme von Boden und Wasser sind eng verbunden, wie sich am Beispiel der Bodenversalzung eindringlich zeigen läßt: Indien ist zum größten Teil von aridem Klima gekennzeichnet: die Niederschläge sind niedriger als das Verdunstungspotential; sie fallen zudem in den meisten Regionen zum ganz überwiegenden Teil während der Monate des Sommermonsuns: ohne künstliche Bewässerung ist deshalb meist nur eine Ernte im Jahr möglich. Unter künstlicher Bewässerung kann es zum Ansteigen des Grundwasserspiegels bis in den Wurzelbereich der Pflanzen kommen; im Boden befindliche Salze werden gelöst, durch die Kapillarwirkung an die Oberfläche gespült und lagern sich wenn zuwenig Wasser auf zuviel Land geleitet wird an den Wurzeln oder an der Oberfläche ab. Es kommt zur Versalzung der Böden, wie wir sie seit den großen Damm- und Kanalbauten der Kolonialzeit vor allem in den Ebenen von Ganges und Indus finden.

Dieses Problem war den Briten nicht unbekannt; eine Alternative wäre es gewesen, mehr Wasser auf weniger Flächen einzusetzen; damit wäre die Möglichkeit, politischen Druck durch Siedlungsprogramme abzubauen, aber in weitaus geringerem Maße gegeben gewesen.

Durch die Ableitung von Wasser in großem Stil für die Bewässerung kommt weniger Wasser an den Unterläufen der Flüsse an; in den Mündungsgebieten dringt deshalb das Meerwasser weiter ins Land vor: der Salzgehalt der Flüsse und auch des flußnahen Grundwasser nimmt zu [Agarwal, Narain 1991].

Ein Versalzungsproblem anderer Art ist vor allem jüngeren Datums durch die Krabbenzucht gegeben: Hier werden Felder in Meeresnähe überspült und zur Krabbenzucht genutzt; das sich am Boden ablagernde Salz macht die Böden für eine anschließende ackerbauliche Nutzung unbrauchbar.

Salze werden den Flüssen schließlich auch durch industrielle Abwässer zugeführt; eine wirkungsvolle Abwasseraufbereitung gibt es kaum.

Etwas anderer Art ist der Zusammenhang von Wasser und Boden durch die Entwaldung im Gebirge: hierdurch wird die Wasserhaltekapazität der Bergwälder verringert; der Wasserabfluß geschieht schneller; das mitgerissene Erdreich setzt sich vor allem am Fuße der Gebirge ab, an den Unterläufen der Flüsse werden die Schwankungen in der Wasserführung saisonal ausgeprägter.

Die heute angebauten Hochertragssorten stellen höhere Ansprüche an die eingesetzten Inputs; neben Wasser werden vermehrt Dünge- und Pflanzenschutzmittel ausgebracht. Beide sammeln sich in Wasser und Boden an und führen zu Überdüngung und Vergiftung. Die Hochertragssorten verdrängen aber auch traditionelle Sorten, die dem Standort zwar angepaßt waren, aber geringe Erträge abwarfen. Die Beschränkung auf ungleich weniger Sorten als früher bedeutet jedoch auch eine erhöhte Gefährdung durch alle Arten von Schädigern, deren Wirkung früher durch die Sortenvielfalt begrenzt war. Ähnliches läßt sich für die Tierproduktion sagen: auch hier verschwinden angepaßte Landrassen; leistungsstärkere Züchtungen stellen höhere Ansprüche an Futter und Veterinärdienst.

Diese Liste der Ressourcennutzung in der Landwirtschaft ließe sich fortsetzen. Festzuhalten ist, daß die Probleme selten neu sind und meist wissentlich in Kauf genommen wurden, und zwar, wie wir gesehen haben, aus sehr unterschiedlichen Gründen: etwa aus wirtschaftlichen Gründen, um die Produktion zu steigern, oder aus politischen Gründen, um politischen Druck abzubauen. Bei der Krabbenzucht geht es gleichermaßen um den Gewinn der einheimischen Unternehmer, wie um Deviseneinnahmen durch Exporterlöse.

Ein kurzer Blick auf die anderen Wirtschaftsbereiche zeigt ein ähnliches Bild:

Im Konsumbereich fällt zunehmend Verpackungsmüll an, vor allem in Form von Plastiktüten; eine geregelte Abwässerbeseitigung und Hausmüllentsorgung gibt es kaum. Zur Bodenvergiftung und Geruchsbelästigung kommen hygienische Probleme: Die meist offenen Abwasserkanäle sind Brutstätten aller möglichen Erreger; die Einleitung von Fäkalien in das Grundwasser und die Entnahme derart verseuchten Wassers als Trinkwasser sind die Ursache vieler Erkrankungen des Verdauungstrakts.

Die Einfuhr von Gift und Sondermüll ("Mülltourismus") vor allem aus den USA, Australien, Südkorea und Deutschland hat besorgniserregende Dimensionen erreicht: Laut einer Greenpeace Statistik wurden allein zwischen April 1996 und Januar 1997 mehr als 15.000 t Blei und Batterien sowie knapp 12.000 t Zinkabfälle nach Indien transportiert. Der Oberste Gerichtshof in New Delhi hat deshalb der Zentralregierung und den Regierungen der Bundesstaaten mit sofortiger Wirkung untersagt, diese Importe zu genehmigen [RNZ 19967].

Strukturwandel

Inwieweit können diese Umweltbelastungen dem Strukturwandel angelastet werden? Eine einfache Korrelation würde eine derartige Vermutung untermauern: Wir können nämlich einen erheblichen Strukturwandel im ganzen Wirtschaftsleben Indiens festestellen, der mit der steigenden Umweltbelastung einhergeht. Dies ist allerdings kein neues Phänomen: Die ganze Geschichte des Landes ist Strukturwandel unterlegen gewesen. Der größte Teil Indiens ist Kulturlandschaft, das Ergebnis von Jahrhunderten von Eingriffen des Menschen in die Natur: Vegetation, Pflanzenwuchs und häufig auch Geländeform sind vom Menschen über Generationen gestaltet worden; die Tierwelt ist in ihrer Zusammensetzung ebenfalls vom Menschen nachhaltig bestimmt: durch Bejagen, Nutztierhaltung und Rodung.

Indiens Bevölkerung ist heute mit 950 Mio. dreimal so groß wie zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit und wird in wenigen Jahrzehnten die Chinas übertreffen. Diese Bevölkerung wird nach wie vor durch die Nahrungsproduktion im Lande ernährt; im Durchschnitt sogar etwas besser als damals. Eine gravierende Hungersnot, wie sie früher an der Tagesordnung war [Dutt 1900, Knight 1954 ], hat es zuletzt 1943 - zu Zeiten der Kolonialherrschaft - gegeben [Bhatia 1970]. Man kann sicher sagen, daß die Verdreifachung der Agrarproduktion einer der großartigsten Erfolge des unabhängigen Indiens ist. Maßgeblichen Anteil daran hat die Einführung von Hochertragssorten und der Auf- und Ausbau der dafür erforderlichen Infrastruktur und Industrieproduktion.

Daß Hungersnöte vermieden werden konnten, ist auch das Ergebnis der Schaffung eines leistungsfähigen Transportsystems, das einen regionalen Ausgleich in der Produktion erlaubt. Das Schienennetz, der steel frame Indiens, wurde bereits in der Kolonialzeit angelegt, nach der Unabhängigkeit ausgebaut und durch lokale Zubringerstraßen erweitert; später wurden auch die Fernstraßen ausgebaut. Dies ermöglichte die Entscheidung der indischen Regierung Schwerpunkte der technischen (=Rüstungs-) Forschung fernab der großen "Metropolen" aufzubauen; nur so konnte sich die indische Software-Industrie in der Provinzhauptstadt Bangalore entwickeln. Wenn wir davon ausgehen, daß sich viele Umweltprobleme überproportional zur Bevölkerungskonzentration entwickeln, ist die so geförderte polyzentrische Wirtschaftsstruktur unter Umweltgesichtspunkten zu begrüßen.

Umweltpolitische Implikationen der indischen Wirtschaftspolitik

Die Orientierung der Wirtschaft an den Bedürfnissen der Kolonialmacht fand mit der Unabhängigkeit ein Ende; in den ersten drei Jahrzehnten danach koppelte sich Indien immer mehr vom Welthandel ab. Diese Politik wurde erst nach dem (ersten) Sturz Indira Gandhis 1977 langsam aufgegeben. Auch heute, nach dem Beginn der sogenannten Liberalisierung durch die Regierung Narasimha Raos und ihres Finanzministers Manmohan Singh, ist Indien noch vergleichsweise wenig in die Weltwirtschaft integriert.

Die Abkopplung vom Weltmarkt und der vorrangige Aufbau der Schwer- und Grundstoffindustrie hatten Wirkung auf die Umwelt. Indien entwickelte sich zum Verkäufermarkt: ohne der internationalen Konkurrenz ausgesetzt zu sein, waren Innovationsdruck und Qualitätsanforderungen vergleichsweise gering. Die Automobilindustrie liefert dafür ein gutes Beispiel: Seit Jahrzehnten wird der Ambassador gebaut, eine Mittelklassen-Limousine, in England entwickelt und dort nach dem Krieg gebaut, technisch anspruchslos und leidlich robust. Das Fahrzeug wird in fast unveränderter Form noch heute produziert, kann gemessen an heutigen Autos als ausgesprochen anfällig bezeichnet werden und ist für seinen Benzinverbrauch und seine Abgaswerte berüchtigt. Als Kleintransporter wurde lange das Tempo-Dreirad gebaut, ursprünglich aus Deutschland, und ebenfalls für seine Luftverpestung bekannt. Pickups, die ganz Asien erobert haben und deren Bedeutung für den Personen- und Lastentransport man überhaupt nicht überschätzen kann, gab es in Indien kaum.

Der Energiesektor liefert ebenfalls gute Beispiele impliziter Umweltpolitik: Indiens Mineralölförderung hat für den einheimischen Bedarf nie ausgereicht; das Land ist nach wie vor auf Importe angewiesen. Der Verbrauch ließe sich bei Pkws, Lkws und Bussen durch Ersatz des Fuhrparks durch Fahrzeuge mit niedrigerem Kraftstoffverbrauch und - in jedem Fall - eine bessere Wartung - erheblich senken und die Emission verringern. Höhere Treibstoffpreise würden entsprechende Anreize schaffen; statt dessen gab die Regierung nach, als nach der Rupienabwertung die Mineralölpreise stiegen und die Transporteure streikten: sie nahm die Preiserhöhungen wieder zurück.

Erdgas spielt bis jetzt keine große Rolle. Als Alternativen verbleiben Kohle, Wasserkraft und Kernenergie. Die Nutzung ist in allen drei Fällen mit erheblichen Umweltproblemen verbunden. Da die alte Faustregel, daß sich der Energiebedarf pro Jahrzehnt verdoppelt, in Indien noch gilt, steht das Land vor schwerwiegenden Entscheidungen: Dabei handelt es sich nur zum Teil um ein finanzielles Problem; der Einsatz entsprechender Filteranlagen würde den Schadstoffausstoß der Kraftwerke erheblich verringern, bei der Wasserkraft bleibt das grundsätzliche Problem des erheblichen Landverbrauchs und des Eingriffs in den Wasserhaushalt dagegen bestehen nur die Folgen ließen sich mit Geld lindern. Die grundsätzlichen Probleme der Kernkraft sind bekannt: Hier geht es auch um die Gefährdung durch den Betrieb der Anlagen; die indische Entscheidung für die Kernkraft ist somit zugleich auch eine umweltpolitische.

Strukturwandel durch Umweltpolitik

Damit wären wir bei der Frage, welchen Strukturwandel die Umweltpolitik bewirkt. Ihre Beantwortung setzt voraus, daß wir eine eindeutige Wirkungsrichtung zwischen Umweltpolitik und wirtschaftlichem Strukturwandel bestimmen können. Dies dürfte kaum möglich sein: Bereits in vor-moderner Zeit gab es Maßnahmen der Umweltpolitik, etwa durch Regelung des Jagens, des Weidens oder des Holzeinschlagens, als Reaktionen auf Strukturänderungen - etwa in Folge steigender Bevölkerung. Es wäre also angemessener, von ständigen Wechselwirkungen zwischen einer sich wandelnden wirtschaftlichen Struktur und Umweltpolitik auszugehen.

Die indische Regierung hat die Prinzipien ihrer Umweltpolitik im gerade abgelaufenen (achten) Fünfjahresplan unter der Überschrift "Umwelt und Wälder" festgeschrieben [GoI 1992 vol. I : 15]; mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Dezentralisierung weist sie den Umweltschutz den Unionsstaaten zu und betont im Übrigen die Notwendigkeit der Aufklärung durch staatliche und nicht-staatliche Stellen; von allen konkreten Projekten findet in diesem Abschnitt nur die Reinigung des Ganges Erwähnung:

"1.4.32 Environment, ecology and development must be balanced to meet the needs of the society. In the interest of sustainable development it would be necessary to take measures to preserve, conserve and nurture, the fragile and critical eco systems. There is need for decentralised approach in this area as well, so that the environmental considerations are taken note of in every sector with a definition of the appropriate technology and environmental options while formulating programmes and projects.

1.4.33 Environmental management principally includes planning for sustainable use of resources, protection and conservation of ecological system by education, training and awareness. Cooperation of both governmental and non-governmental organisations should be called for at all stages if environmental movement is to achieve success. It can only be accomplished with the fullest cooperation of the people. Cleaning of important rivers such as the Ganga will have to be accelerated.

1.4.34 Forest conservation and development must aim at preservation of biological and genetic diversity in terms of fauna and flora and protection of forest cover from further degradation. At the same time, meaningful projects are to be developed to utilize wastelands and to make them productive."

Diese Liste von Aufgaben repräsentiert den Geschäftsbereich des Staatsministers (independent charge) für Umwelt und Forsten; weitaus entscheidender für die Umweltpolitik dürften seine mächtigeren Kollegen im Landwirtschafts-, Wasser-, Energie oder Finanzministerium sein. Das zeigt auch der von der indischen Regierung 1996 vorgelegte Bericht über die Infrastruktur und die Möglichkeiten ihrer Privatisierung [NCAER 1996]: er geht in keiner Weise auf Umweltprobleme ein (abgesehen davon, daß die Studie selektiv ist und etwa die Eisenbahn und die Kernkraft nicht berücksichtigt). Dies könnte man mit gering entwickeltem Problembewußtsein erklären; wahrscheinlicher ist jedoch, daß die indische Regierung Zielkollision zwischen Umweltschutz und Liberalisierung vermutet und deshalb den Umweltschutz ausklammert: Ihre zwiespältigen Gefühle zeigten sich bereits während der Verhandlungen im Rahmen des GATT und der Gründung der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation). Hier vertrat Indien als einer der Wortführer die Bedenken der Entwicklungsländer in der Frage der geistigen Urheberrechte (trade related intellectual property rights TRIPS), die von höchster Wichtigkeit für die Umweltpolitik sind, da darunter auch die Biotechnologie [Menon 1994] und so entscheidende Fragen fallen, ob lebende Organismen patentierbar sind.

Übrigens beeinflussen auch Verzehrgewohnheiten die Umwelt ganz entscheidend, obwohl der Verzicht auf die Veredelung der Nahrung durch den Tiermagen der Umweltpolitik eigentlich nicht zuzurechnen ist. Das Schlachten von Rindern ist aber in den meisten Unionsstaaten verboten, so daß dieser Teil der Umwelt durch Politik geschützt wird. In jedem Fall bedeutet der Verzicht auf tierische Nahrungsprodukte, daß vergleichsweise geringe Flächen für die Tierproduktion benötigt werden (der Futtergewinnung für das Zug- und Milchvieh dienen meist Flächen, die nicht ackerbaulich genutzt werden (können)). Im Gegensatz zu uns ist allerdings in Indien der Fleischverzehr auf dem Vormarsch, wenn auch auf niedrigem Niveau.

Umweltpolitik wird auch in den Städten betrieben: dort regt sich zunehmend Widerstand gegen die schlechte Wasserversorgung, die unzureichende Müllbeseitigung, den Lärm und die Luftverschmutzung - vorerst mit geringem Erfolg. Noch sind die meisten Städter auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen, der aber einer der Hauptumweltverschmutzer ist. Daß in New Delhi seit Jahrzehnten eine Kommission die nächste ablöst, um ein leistungsfähigeres öffentliches Nahverkehrssystem zu entwerfen, und daß man in Calcutta die Straßenbahn abschaffen wollte, sagt einiges aus über das Umweltverständnis der zuständigen Planer und Politiker. Immerhin werden neuerdings hohe Strafen für Abgassünder verhängt, mit dem Ergebnis langer Warteschlangen bei den Abgastests [Halarnkar 1997 : 87].

Wachsendes Umweltbewußtsein in Indien

International bekannt geworden sind vor allem die Baumschutzaktionen des chipko andolaan, der Widerstand gegen den Tehri-Staudamm [Govardhan 1993] und gegen das Narmada-Projekt (auch: Narbada) [Baviskar 1995] oder die Anti-Tourismus-Bewegung in Goa. Weniger bekannt wurde etwa der Widerstand in Goa gegen den Bau eines Atomkraftwerkes im Nachbarstaat [Alvares 1993 : 222-227], vor allem nachdem gravierende Baumängel bekannt wurden.

Aufsehen erregten in Indien Meldungen, daß die legendäre Absorptionsfähigkeit des Ganges erschöpft und der heilige Fluß hochgradig verseucht sei; 1985 wurde deshalb die Central Ganga Authority und ins Leben gerufen und ein National River Action Plan aufgestellt [India 1993 : 182-183]. Als gefährdet gilt auch das Taj Mahal in Agra, das berühmteste Bauwerk Indiens, dem die Industrieabgase zusetzen. Als typisches Beispiel für den indischen ad-hocism kann der Versuch angesehen werden, ohne Vorwarnung die vielen kleinen Gießereien aus der Stadt zu verbannen [Mehta 1994].

Einige dieser Aktionen lassen erkennen, daß es weniger um Umweltschutz per se geht, sondern darum, daß Gebietsfremde die Umwelt wirtschaftlich nutzen und damit schädigen, z. B. dadurch, daß sie die Wälder abholzen, Staudämme errichten, Rückhaltebecken anlegen und Kraftwerke bauen, Aktionen, die gesamtwirtschaftlich nützlich sein mögen, der lokalen Bevölkerung aber mehr Schaden als Nutzen einbringen.

Verfügungsrechte und Vertretungsmacht

Diese Problematik ist in den letzten Jahren von der Wirtschaftswissenschaft im Rahmen der Neuen Institutionentheorie aufgegriffen worden [Richter 1990; Schenk 1992; Reuter 1994]. Zwei Aspekte haben dabei besondere Beachtung gefunden, die der Verfügungsrechte (property rights) und die der Vertretungsmacht (principal/agents).

Die Überlegungen sind etwa folgendermaßen: Nur hinreichend definierte Verfügungsrechte garantieren eine schonende Nutzung natürlicher Ressourcen. Die Inhaber dieser Verfügungsrechte werden sie demjenigen überlassen, der bereit ist, den höchsten Preis zu zahlen; dieser Mechanismus garantiert, daß die Ressourcen der besten Nutzung zugeführt und aus finanziellen Gründen sparsam eingesetzt werden. Damit dieses Konzept greifen kann, sind allerdings einige Bedingungen zu erfüllen, die in der Praxis nur schwer oder gar nicht gegeben sind. Dazu gehört, daß die Transaktionskosten, etwa in Form von Informations- und Verhandlungskosten, nicht erheblich sind und die Interessen zukünftiger Generationen wahrgenommen werden können.

Damit wären wir bereits bei der Vertretungsmacht. In vielen Fällen kann der Inhaber der Verfügungsrechten, wir nennen ihn Prinzipal, diese nicht selbst wahrnehmen; er bedarf eines Vertreters, des Agenten. Wenn wir noch einmal an den Wald denken und uns als Eigentümer der Verfügungsrechte den Staat, und das heißt die Bevölkerung, vorstellen und als seinen/ihre Agenten die Forst- oder Finanzbeamten, so müssen wir befürchten, daß die Agenten nicht unbedingt die Interessen des Prinzipals vertreten, sondern z. B. auch solche, die sie nur dafür halten, oder auch eigene. Die Übertragung von Vertretungsmacht garantiert also nicht die Vertretung der Interessen der Inhaber der Verfügungsrechte.

Die Situation wird dadurch kompliziert, daß an einem Stück Land durchaus ganz unterschiedliche Rechte gleichzeitig bestehen können: So wird der Wald in vielfältiger Weise genutzt, wobei die einzelnen Nutzungsarten sich nur teilweise ausschließen: Das Verbot des Einschlagens zur Gewinnung von Rund- und Schnittholz steht dem Sammeln von Brennholz, der Gewinnung von Wildgemüse oder der Waldweide nicht automatisch entgegen. Auch die Brandrodung läßt entsprechende Rodungstechniken vorausgesetzt andere Nutzungen zu, nicht aber eine völlige Rodung und anschließende Umwandlung in permanentes Ackerland oder die Überflutung durch ein Rückhaltebecken. Die Vorstellung, daß alle Verfügungsrechte eindeutig definiert seien und in einer Hand lägen, ohne Transaktionskosten den Eigner wechseln könnten und jeder Eigner der Verfügungsrechte, auch wenn es der Staat ist, sich wirksam und womöglich uneigennützig bei der Wahrnehmung seiner Interessen vertreten lassen könnte, und das in einer Weise, die die Interessen aller, sowohl einzeln als auch gemeinsam, gleichermaßen berücksichtigten, ist [mir] kaum vorstellbar.

Dies gilt ganz besonders beim gegenwärtigen indischen Staatsaufbau: Als Erbe der Kolonialzeit liegt die Macht bei einer Verwaltung, die vergleichsweise selbstbewußt gegenüber der politischen Führung agiert; die Unionsstaaten sind weniger selbständig, als es die föderale Ordnung vermuten läßt; die unteren Gebietskörperschaften verfügen über ungleich weniger Macht als bei uns. Für die Verfügungsrechte an der Umwelt hat dies zur Folge, daß der Staat Eigentumsrechte an dem reklamiert, was die Briten waste nannten, was häufig Wald ist [Baden-Powell 1892]. Wenn etwa die Regierung des Unionsstaates Uttar Pradesh die Forstnutzungsrechte in den Bergwäldern des Uttara Khand im Himalaya vergibt, und das noch an regionenfremde Unternehmen, die sog. contractors, so haben die Bewohner dieser Waldgebiete nur den Schaden und keinerlei Nutzen zu erwarten. Ähnlich liegt der Fall bei den Stauseen, Kraftwerken und häufig auch bei den Verkehrsanlagen. Im Uttara Khand benachbarten Himachal Pradesh konnte der Holzeinschlag offensichtlich ohne großen Widerstand und effizient eingeschränkt werden: Himachal ist nämlich ein eigener, kleiner und überschaubarer Unionsstaat, in dem der Umweltschutz keine so großen Interessengegensätze überwinden muß.

Eine andere Art von Ansprüchen auf Verfügungsrechte entstand durch den licence raj (raj = Herrschaft), das ausufernde Lizenzierungssystem, das die endlosen Regulierungsversuche mit sich brachten und nur das rent-seeking [Krueger 1974], den Rentier, und nicht den Unternehmer förderte [Bhagwati 1993 : 60]. Es begünstigte gleichermaßen diejenigen, die Lizenzen vergaben, und diejenigen, die Lizenzen erhielten, zu Lasten der übrigen. Dieses typische insider-outsider-Problem trägt in Indien die bildhafte Bezeichnung des hand-in-glove, so gut war die staatliche Regulierung auf die privaten Interessen zugeschnitten. Der Versuch, sich liebgewonnene Privilegien zu erhalten, hat auch vor der Umweltpolitik nicht Halt gemacht: Weltweit bekannt wurde der Versuch, durch die Anlegung strenger hygienischer Standards einem international bekannten Unternehmen der Systemgastronomie die Genehmigung zum Betreiben eines Schnellrestaurants zu verbieten. Nicht die Tatsache als solche, sondern der Anlaß, eine einsame Fliege, haben dazu geführt, daß diese Aktion kaum der Umweltpolitik zuzurechnen ist.

Auch im Falle der Agitation gegen den führenden internationalen Getreide- und Saatguthändler wurde nicht nur die Sorge um die Versorgung indischer Bauern mit billigem, einheimischen Saatgut vermutet, sondern das Bemühen, unliebsame Konkurrenten aus dem Ausland zu vertreiben. Man darf diese Versuche, den Umweltschutz zu instrumentalisieren, allerdings nicht nur als wettbewerbsfeindliche Manöver abtun: Gerade in Indien wirkt das Trauma noch nach, daß es einer Handelsgesellschaft eines entfernten, vergleichsweise kleinen, Inselstaates gelingen konnte, ein so großes Land zu unterjochen.

Der Gedanke, die Natur nachkommenden Generationen möglichst unversehrt weiterzureichen und diese an der inter-temporalen Verteilung der Ressourcen angemessen zu beteiligen, ist auch in Indien, gerade in der Landwirtschaft, verwurzelt. Dazu kommen jedoch auch Verteilungskonflikte inter-personaler und inter-regionaler Art.

Damit ist Umweltschutz von eminenter wirtschaftlicher und politischer Bedeutung.

Umweltschutz

Häufig haben wir es aber auch mit Fällen zu tun, in denen die Schäden bereits in der Gegenwart merklich sind und die Betroffenen zugleich deren Verursacher und Nutznießer sind. Beispiele dafür wären die Bewässerung in der Landwirtschaft, der Nahverkehr mit Bussen, Rickshaws, Pkws, Motorrädern und Motorrollern oder die Entsorgung der Abfälle gleich hinter dem Haus.

Seitdem die vocal groups der Mittel- und Oberschicht betroffen sind, regt sich Widerstand. In den letzten zehn Jahren ist eine nicht mehr zu übersehende Zahl von Veröffentlichungen zu umweltpolitischen Themen in Indien erschienen [A. Agarwal 1992], von Wissenschaftlern der verschiedensten Fachrichtungen; es sei allerdings nicht verschwiegen, daß Umweltprobleme in den meisten Büchern, die sich den aktuellen Wirtschaftsproblemen beschäftigen, nicht oder nur am Rande behandelt werden [Lucas, Papanek 1988; Bhagwati 1993; Cassen, Joshi 1995; Dreze, Sen 1995; Joshi, Little 1996].

Transregionale und transnationale Umweltprobleme

Auf die räumlich übergreifenden Wirkungen möchte ich noch einmal zurückkommen. Hier geht es um handfeste Interessen; ein besonders gravierender Fall ist der der Nutzung des Kauvery-Wassers, um das sich die Unionsstaaten Karnataka und Tamil Nadu streiten: Karnataka hat dabei den Vorteil, den Oberlauf zu kontrollieren. Dadurch, daß sich hier Emotionen entlang regionaler, ethnischer und linguistischer Zugehörigkeiten mobilisieren lassen, besteht erheblicher politischer Zündstoff.

Dies gilt noch mehr bei trans-nationalen Umweltproblemen zwischen Nachbarstaaten. Der Indus- Wasser-Vertrag von 1960, in dem sich Pakistan und Indien über die Nutzung des Indus und seiner Nebenflüsse einigten, ist ein eindrucksvolles Beispiel politischer Vernunft. Der Streit um das Ganges-Wasser zwischen Indien und Bangladesh schwelt seit dreißig Jahren [Begum 1987]; bis jetzt gelang es, eine Verschärfung des Konflikts zu vermeiden, aber nur, weil Bangladesh zu schwach ist, um seine Interessen wirkungsvoll durchsetzen zu können.

Schließlich haben wir noch die globalen Umweltprobleme, etwa in Form der Zerstörung des Ozon-Gürtels, der befürchteten weltweiten Erwärmung des Klimas und des Anstiegs der Meere. Indien ist hier gleichermaßen Opfer und Täter. Von der Menge des Schadstoffausstoßes von CO2 belegt es international Platz sechs [WDR 1996 : 202-203], aber nur wegen der gewaltigen Bevölkerungszahl; pro Kopf ist der Energieverbrauch einer der niedrigsten der Welt.

Das Anwachsen eines kaufkräftigen Mittelstandes von mehr als 200 Millionen Indern wird denn auch international mit gemischten Gefühlen gesehen. Allerdings trifft die Bezeichnung "Mittelstand" vorerst nur im indischen Kontext zu; nach europäischen Maßstäben zählen die wenigsten von ihnen dazu. Die meisten können sich wenig mehr als ein Fahrrad leisten; in Familien mit einem privaten Pkw, das käme unseren Vorstellungen von Mittelstand näher, dürften lediglich etwa 20 Mio. leben. Mit einer raschen Zunahme der Zahl der Pkw ist aber zu rechnen [Nicholson 1997]. Auch wenn die neuen Fahrzeuge weniger Abgase emittieren, wird Indiens Anteil an der Welt-Emission zunehmen.

Es ist aber zu erwarten, daß mit wachsendem Einkommen nicht nur mehr Industrieprodukte nachgefragt werden, sondern auch mehr Lebensqualität. Diese ist besonders dort gefährdet, wo der Mittelstand wohnt, nämlich in den Städten, so daß längerfristig damit zu rechnen ist, daß er sich mit seinen Forderungen nach einer wirkungsvollen Umweltpolitik durchsetzen wird, vielleicht sogar zu Lasten der ländlichen Bevölkerung, deren Umweltprobleme in den Hintergrund gedrängt werden könnten.

In jedem Fall dürfte es zu einer Verlagerung besonders umweltbelastender Produktionen an periphere Standorte kommen; peripher ist dabei nicht nur im geographischen, sondern auch im sozialen Sinne zu interpretieren. International läßt sich die Tendenz beobachten, belastende Produktionen in arme Länder zu verlagern: ein Beispiel in Indien wäre das Abwracken von Tankern.

Natürlich hat Indien eine ganze Reihe von einschlägigen Umweltschutzbestimmungen erlassen, doch ist die Wirksamkeit derartiger Verfügungen in der Praxis nicht automatisch gewährleistet: Gunnar Myrdal [1970 : 208-252] spricht deshalb vom soft state.

Fazit

Welche Schlüsse lassen sich aus dem, was ich vorgetragen habe, ziehen? Indiens Wirtschaft hat an Dynamik gewonnen. Von einem den ost- und südostasiatischen Ländern vergleichbaren Wirtschaftswunder kann aber noch nicht gesprochen werden. Ein stärkeres Wachstum wäre durchaus wünschbar, denn wie -- die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi in ihrer wegweisenden Rede auf dem Umweltgipfel in Stockholm bereits 1972 anmahnte -- Armut und Krieg sind die schlimmsten Bedrohungen der Umwelt. Ökonomie und Ökologie schließen einander keinesfalls zwangsweise aus; nicht die Entscheidung für wirtschaftliches Wachstum, sondern die Ausformung einer entsprechenden Wirtschaftspolitik entscheidet über das Ausmaß der Umweltbeeinträchtigung. Umweltpolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel bedingen sich gegenseitig und das schon seit langem.

Weniger die Einsicht in umweltpolitische Notwendigkeiten als die Möglichkeiten deren wirtschaftlicher, sozialer und politischer Umsetzung wären zu fördern. Das wird nicht leicht sein, zumal fundamentale Interessengegensätze zu überwinden sind, die sich leicht politisch instrumentalisieren lassen, wie das Beispiel des Kauvery-Wassers vielleicht am besten zeigt. Der Einsatz wirtschaftspolitischer Maßnahmen, wie etwa die Durchsetzung marktnaher Preise für Güter des Grundbedarfs (Trinkwasser) oder landwirtschaftliche Inputs (Wasser, Elektrizität), dürfte auf starken Widerstand stoßen; die daraus resultierenden und dringend erforderlichen besseren Standortbedingungen für die Industrie (Elektrizität: Versorgungssicherheit und Preise), die letztlich mehr Arbeitplätze, Einkommen, Exporterlöse und Steuereinnahmen bedeuten, werden nur von wenigen erkannt. Bis jetzt hat Indien die wenigsten dieser Maßnahmen eingeleitet; dies bedeutet positiv betrachtet mehr Zeit, in der der zu erwartende weitere Strukturwandel abgeschätzt und entsprechende umweltpolitische Maßnahmen konzipiert und durchgesetzt werden könnten.

Wenn wir den Strukturwandel differenzieren und auf seine umweltspezifischen Implikationen untersuchen, so können wir feststellen, daß der Wandel in der Produktionsstruktur zu steigenden Ressourcenanforderungen geführt hat, aber auch zu der Einsicht, wie wichtig ein schonender Umgang mit ihnen ist.

Das Anwachsen des Mittelstandes zeigt die Änderung der Einkommensstruktur: Dieser Mittelstand ist direkt und indirekt für den vermehrten Ressourceneinsatz verantwortlich, er fordert aber auch mehr Lebensqualität und ist wirksamster Anwalt des Umweltschutzes.

Die stärkere Einbindung in die internationale Arbeitsteilung bedeutet eine veränderte Außenhandelsstruktur: Vom Weltmarkt gehen aber nicht nur Bedingungen an die Qualität der Exportprodukte aus, sondern auch an die Produktionsprozesse, z. B. bei Fischereierzeugnissen oder Lederwaren; bei den Dienstleistungsexporten wird dies etwa bei den Forderungen des Tourismus nach Artenschutz besonders deutlich; weiterreichend dürften die Wirkungen des Dienstleistungsimports sein, vor allem durch die elektronischen Medien. Schließlich müssen wir an die Arbeitsmigration denken, die die Idee des Umweltschutzes transportiert.

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