Tilman Frasch
Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Geschichte

Die Gegenwart der Geschichte - Altsinghalesische Chroniken und ihr moderner Gebrauch

Vortrag am 29.1.1998 anläßlich des Kolloquiums "Sri Lanka: 50 Jahre Unabhängigkeit"
 

Während der indische Kulturbereich, bis auf wenige Ausnahmen, praktisch keine vormoderne Geschichtswerke wie Chroniken oder Annalen hervorgebracht hat - zu Unrecht wurde daraus oft geschlossen, Indern mangele es überhaupt an Geschichtsbewußtsein - entwickelte sich in Sri Lanka schon früh eine umfangreiche Geschichtsschreibung, die mit dem Mahavamsa auch ein Werk hervorbrachte, das einer mittelalterlichen Chronik des Abendlandes an kaum einer Stelle nachsteht. Über Jahrhunderte vergessen oder zumindest nur einer kleinen Elite zugänglich, wurden sie im 19. Jahrhundert, übersetzt und gedruckt, fester Bestandteil eines singhalesischen Nationalbewußtseins. Zusammen mit den Geschichtswerken rückte auch die Größe der Zivilisation, auf deren Grundlage sie entstanden, ins öffentliche Bewußtsein. Der Tristesse der kolonialen Gegenwart konnte so eine goldene Vergangenheit entgegengesetzt werden, die zugleich, in die Zukunft gewendet, eine Erwartung ausdrückte und so auf die Politik der Nationalbewegung einwirkte. Immer dienten die alten Chroniken zu Instrumenten der Politik, mit denen sich Ansprüche formulieren und Herrschaft legitimieren ließen. Dieser Gegenwart der Geschichte in der Tagespolitik möchte ich mich heute annehmen und Ihnen dazu zunächst die wichtigsten dieser Werke vorstellen. Danach werde ich einen Blick auf ihre Wiederentdeckung während der Kolonialzeit werfen und zum Schluß einige Beispiele für ihren politischen Gebrauch liefern, damit auch ein Schlaglicht auf das geistige Klima in Sri Lanka werfen.

Das älteste erhaltene Werk ist der Dipavamsa ("Chronik der Insel"), der vermutlich im 4. Jahrhundert n. Chr. von einem unbekannten Autor (sicher aber von einem Mönch) kompiliert wurde.(1) Dank der Forschungen des österreichischen Indologen Frauwallner können wir uns ein ungefähres Bild von seiner Entstehung machen.(2) Der Autor verwendete sowohl einheimische wie von Subkontinent stammende Überlieferungen, die ihm als Kommentar zum buddhistischen Kanon (dem sog. Tipitaka oder "Dreikorb") zur Verfügung standen. Die Übersetzung dieser Quellen in das Pali, die kanonische Sprache des Buddhismus, scheint ihm dabei schwergefallen zu sein, denn sein Werk ist sprachlich wenig vollendet und enthält einige unverständliche Passagen. In einer Zeit, in der der Buddhismus aus seinem nordindischen Stammland zu verschwinden beginnt, ist es der Zweck des Werkes, die Geschichte der Insel als eine Art buddhistische Heilsgeschichte darzustellen: Mit den (mythischen) Besuchen Buddhas, der Missionierung der Insel durch den Mönch Mahinda, der Pflanzung eines Ablegers vom heiligen Bodhi-Baum oder auch der genealogischen Anbindung der singhalesischen Könige an das Sakya-Geschlecht (dem auch Buddha entstammte) etc. wird die Insel zu einer Insel der Religion (dhammadipa), zur wahren und rechmäßigen Hüterin des indischen Erbes. Mit dieser Zweckgebundenheit wird zugleich aber auch klar, daß die Chronik nicht notwendigerweise einen objektiven Tatsachenbericht enthält (was angesichts des großen zeitlichen Abstandes zum Geschehen von fast 1000 Jahren kaum möglich gewesen wäre), sondern Herrscher und Volk summarisch in die Pflicht nimmt, damit sich ein solcher Niedergang wie in Indien nicht wiederholen kann.

Wie der Dipavamsa endet auch der Mahavamsa im 4. Jahrhundert mit der Regierung des Königs Mahasena,(3) bietet allerdings allein schon in literarischer Hinsicht einen merklichen Fortschritt: Die Geschichte wird hier in vollendetem Pali und entlang klarer Enwicklungslinien geschrieben. Selbstbewußt weist sein Verfasser, der Mönch Mahanama,(4) in der Einleitung auf die Mängel seines Vorgängers hin, die er behoben habe.(5) Zudem tritt an die Stelle einer unpersönlichen Heilgeschichte nun die Erzählung eines einzelnen Königs (Dutthagamani, ca. 101-77 v. Chr.), der durch seine umfangreiche Stiftungstätigkeit die Maßstäbe für das Verhalten zukünftiger Könige setzte und zugleich den Höhepunkt der narrativen Struktur der Chronik bildet. Daneben darf jedoch ein weiterer Grundzug des Mahavamsa nicht verkannt werden. Seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. gab es in der Hauptstadt Anuradhapura mit dem Mahavihara und dem Abhayagiri-Vihara zwei große Klöster, die einander feindlich gegenüberstanden. In dieser Auseinandersetzung vertrat der Mahavamsa die Position des Mahavihara und dessen Anspruch, die größere Orthodoxie der Lehre bewahrt zu haben. Dies wird zum Beispiel im Fall der Gründung des Abhayagiri-Vihara deutlich; vor allem aber bei der Klosterreform des schon genannten Königs Mahasena, die das Mahavihara in seiner Substanz bedrohte. Während der Dipavamsa den Verlauf der Reform vom Standpunkt eines scheinbar neutralen Beobachters schildert,(6) beschreibt der Mahavamsa das Vorgehen des Königs als Angriff auf die Immunität des Klosters, dessen Mönche vertrieben und dessen Grenzsteine entfernt wurden.(7) Über den allgemeinen Anspruch, daß Sri Lanka die "Insel der Religion" sei, hinaus, vertritt der Mahavamsa damit den Standpunkt einer bestimmten Richtung innerhalb des Buddhismus - ein Umstand, der den Wert dieser Chronik als Quelle für die frühe singhalesische Geschichte erheblich einschränkt, insbesondere eben auch in der Frage, ob sie als "nationales" Geschichtswerk taugt.(8)

Der Mahavamsa wurde in mehreren Etappen fortgeschrieben, die nicht ganz korrekt unter dem Titel Culavamsa bekannt sind.(9) Dessen erste Kapitel schließen nahtlos an den Mahavamsa an und schildern den Überlebenskampf und die Restauration des Mahavihara. Ohne hier den noch notwendigen Untersuchungen zum weiteren Aufbau vorgreifen zu wollen, läßt sich doch eine gewisser Wandel bei der Abfassung weg von der rückschauenden Chronistik hin zur zeitgenössischen Annalistik konstatieren. Die wird besonders deutlich bei den Königen Vijaya Bahu I. (ca 1055-1110 AD) und Parakkama Bahu I. (1153-1186), deren Biographien noch zu Lebzeiten beider verfaßt worden sein dürften.(10) Daneben wird eine thematische Änderung sichtbar: An die Stelle des alten Zentrums Anuradhapura und seiner religiösen Stätten tritt nun das neue Nationalheiligtum, die Zahnreliquie und deren Kult, in den Vordergrund der Betrachtung. Ungefähr zur Mitte des 13. Jahrhunderts gab König Parakkama Bahu II. (1232-1270) eine weitere Fortsetzung in Auftrag,(11) und im Auftrag von König Kitti Sri Rajasimha wurde die Chronik zur Mitte des 18. Jahrhunderts nochmals aktualisiert, diesmal zu unverkennbar politischen Zwecken. 1739 war nämlich die singhalesische Dynastie von Kandy endgültig erloschen und durch eine neue aus Madurai (Südindien) stammende ersetzt worden. Nicht zuletzt auch wegen ihrer noch starken Bindungen an den Hinduismus hatten die Nayyakar-Herrscher große Legitimitäts-Probleme und versuchten daher, sich historiographisch in eine Reihe mit den alten singhalesischen Dynastien zu stellen. Denselben Zweck kann man auch der letzten Ergänzung unterstellen, die die Ankunft der Briten zum Gegenstand hat und im 19. Jahrhundert auf Betreiben der neuen Kolonialherren verfaßt wurde.(12) Mahavamsa und Culavamsa präsentieren sich somit keineswegs als ein einheitliches Werk, sondern als eine Zusammenstellung, die je nach Verfasser, Adressat und zeitlichen Umständen einen anderen Zweck verfolgt. Der erste Befund wäre also, daß die drei großen Chroniken, vielleicht abgesehen vom Dipavamsa, für ein "nationales" Geschichtswerk im Grunde nicht taugen.

Daß sie es dennoch wurden (ich komme hier zum zweiten Punkt), hat wesentlich mit ihrer Ausnahmestellung im "geschichtslosen" indischen Kulturraum zu tun. Sehr bald erregten die Chroniken die Aufmerksamkeit der britischen Kolonialherren, die sie sammeln und sichten ließen. Bereits 1833 lagen die ersten Auszüge in englischer Übersetzung vor,(13) und wenig später erschien Turnours vollständige Übersetzung des Mahavamsa.(14) Zwei deutsche Indologen, Hermann Oldenberg und Wilhelm Geiger, erstellten schließlich die bis bis heute grundlegenden Editionen bzw. Übersetzungen von Dipavamsa, Mahavamsa und Culavamsa.(15) Im 20. Jahrhundert traten zwei neuartige Elemente hinzu. Schon im Culavamsa hatte sich ja die Möglichkeit angedeutet, eine Chronik fortzuschreiben und sie aktuellen Anforderungen anzupassen. Dies geschah nun in den 1950er Jahren im Zusammenhang mit den Buddha Jayanti-Feiern, die anläßlich des 2500. Todestages Buddhas begangen wurden. Zwei Mönche erhielten den offiziellen Auftrag, den Dipavamsa bis in dieses Jahr zu erweitern.(16) Präsident Jayawardene ernannte nach seinem Wahlsieg 1977 gleichfalls eine Kommission, die den Nachtrag zum Culavamsa bis zu seiner Regierungszeit verfassen sollte.(17) Daß sich Jayawardene nicht nur historiographisch, sondern auch persönlich in die Reihe großer singhalesischer Herrscher stellte, soll weiter unten noch eingehender behandelt werden. Einschneidend war auch der andere Wandel: Die Chroniken waren in Pali, der kanonischen Sprache des Theravada-Buddhismus abgefaßt worden. In ihren obengenannten Übersetzungen waren sie dann auch für die anglisierte Oberschicht verständlich und benutzbar, aber erst die 1927 erstmals erfolgte Übersetzung des Dipavamsa in die singhalesische Sprache machte aus Klosterchroniken Volksbücher, die die Entstehung einer nationalen Identität förderten und auf deren Bekanntheit im politischen Tagesgeschäft vertraut werden konnte.

Es gehört zu den Paradoxien des westlichen Kolonialismus, daß die Segnungen, die er zu bringen vorgab, unschwer gegen seinen Urheber gekehrt werden konnten. Im Falle der Chroniken betraf dies den Nachweis ihrer Zuverlässigkeit anhand anderer Quellen und Belege. 1837 gelang James Prinsep die Identifizierung des nordindischen Königs Devanampiya, der aus Brahmi-Inschriften bekannt war, mit Asoka Maurya;(18) ebenso belegten singhalesische Inschriften Angaben aus den Chroniken.(19) Für H. C. P. Bell, seit 1893 Leiter des Arch Dept., waren sie unverzichtbare Hilfsmittel bei der Bestimmung ausgegrabener Plätze in und um Anuradhapura.(20) Gewollt oder ungewollt, wirkte sich diese Kanonisierung der Chroniken auch auf die sich gegenüber der Kolonialmacht konstituierende Nationalbewegung aus, die in den Schriften den Beweis für die einstige Größe der Nation und ihr über 2000jähriges Fortbestehen erkannte. Mit Hilfe der Chroniken konnte eine goldene Vergangenheit beschwört, ja belegt werden, und als Utopie gewendet diente diese Vergangenheit zugleich als Zukunftserwartung. Mit Geschichtsbildern wurde Politik gemacht, zunächst gegen die herrschende Kolonialmacht, in zunehmendem Maße aber auch mit deutlicher anti-tamilischer Stoßrichtung.

Grundlage blieb aber die Erkenntnis, daß die Chroniken objektive, unumstößliche Tatsachen berichteten, und mit ungleich größerer Vehemenz wurde daher auch gegen all jene vorgegangen, die Zweifel an einzelnen Episoden vortrugen. Überliefert ist etwa der Fall des bekannten singhalesischen Archäologen und Epigraphisten Senarat Paranavitana, der in einem Vortrag 1963 die Besuche Buddhas auf der Insel anzweifelte. Aus unserer Sicht lassen sie sich unschwer als Mythen enttarnen,(21) doch war es gerade dieser, das dhammdipa-Konzept konstituierende Mythos, der heftige Reaktionen von Seiten des singhalesisch-buddhistischen Nationalismus heraufbeschwor. Äußerungen wie "childish or humorous talk" (so der Vizerektor der Vidyalankara-Universität), "Dr. Paranavitana has been bought over by the Catholic Church" (ein führender Abt) oder "Dr. P. should not be pardoned for his irresponsible utterance" (ein anderer Abt) zwangen Paranavitana, der dieser politischen Strömung sonst sehr nahe stand, zum öffentlichen Widerruf.(22) Daß man solches Umgang mit Abweichlern nicht als bedauerlichen Einzelfall in politisch aufgeheizter Atmosphäre abtun kann, zeigt ein ähnlicher Fall, der sich schon in den 30er Jahren ereignet hatte und den Doyen der singhalesischen Historikerzunft traf. Garrett Champ Mendis, der 1931 in London eine Dissertation zum Thema "Historical Criticism of the Mahavamsa" vorgelegt hatte, hielt nach seiner Rückkehr in Colombo mehrere Vorträge, in denen er ebenfalls einzelne Episoden wie die Mission Mahindas und den Transfer der Bodhi-Baumes bezweifelte. Auch an diesem Punkt kann es heute kaum mehr Zweifel geben, daß die beiden Hauptakteure zu Kindern des indischen Königs Asoka, dem buddhistischen Modellkönig, verdichtet wurden. Zum einen geschah dies wieder in der Absicht, eine "Insel der Religion" zu schaffen; zum anderen offenbart sich hier aber auch die sektiererische Tendenz des Mahavamsa, der mit Mahindas Ordinationstradition seinen eigenen Anspruch auf Orthodoxie untermauerte. Vielleicht wurde auch der Umstand, daß Mendis seine Vorträge ausgerechnet vor dem YMCA in Colombo hielt, als zusätzliche Provokation ausgelegt; jedenfalls traf auch ihn der Bannstrahl der Mahavamsa-Gläubigen, die ihn zu einer öffentlichen Entschuldigung zwangen.(23) Der Erfolg, wenn man ihn so bewerten will, ging sogar soweit, daß Mendis seine Dissertation (abgesehen von einigen Auszügen)(24) nie mehr als Ganzes veröffentlichte und erst mehr als 20 Jahre später wieder von "Legenden" im Mahavamsa zu sprechen wagte.(25)

Umgekehrt dienen die großen Könige des alten Sri Lanka mitsamt ihren Taten, angeführt von den drei bedeutendsten Dutthagamani, Gajabahu und Parakkama Bahu I., neuzeitlichen Politikern in jeder Hinscht als Vorbilder. Dies geht so weit, daß sich einzelne Politiker als Reinkarnationen ihres jeweiligen Helden zu erkennen gaben: Bandaranaike und Jayawardene verbanden sich mit Dutthagamani, Don Stephen und Dudley Senanayake mit Parakkama Bahu I.(26) Hinsichtlich der Taten der Könige brauchte da schon nicht mehr auf die Chroniken rekurriert werden, weil sie bereits fester Bestandteil des (Schul-)Bildungskanons geworden waren und Kindern in der Grundschule beigebracht wurden.

Mit ihrer Konzentration auf die Themenbereiche Land, Volk und Religion ließen sich die altsinghalesischen Chroniken leicht vom singhalesischen Nationalismus vereinnahmen, ihre Aussagen für zutreffend erklären, auch wenn sie nicht belegbar waren. Schwieriger gestaltete sich sich Frage jedoch zum einen dort, wo Aussagen nicht in das Geschichtsbild des Nationalismus passten oder die Chroniken sich an Stellen ausschwiegen, die für die Politik der Gegenwart relevant waren. Ich möchte in meinen abschließenden Beispielen illustrieren, mit welchen Mitteln hier nachzuhelfen versucht wurde.

Das erste Beispiel knüpft unmittelbar an den soeben erwähnten König Dutthagamani an. Er ist der unbestreitbare Held in der Erzählung des Mahavamsa, weil er nicht nur die gesamte Insel unter seiner Herrschaft einte, sondern auch als frommer Stifter die Maßstäbe für seine Nachfolger setzte. Sein Aufstieg begann im Süden der Insel und endete mit dem Sieg im Zweikampf über den tamilischen König Elara vor den Toren von Anuradhapura. Allen späteren Umdeutungsversuchen zum Trotz war dies keine singhalesisch-tamilische Auseinandersetzung,(27) daran läßt auch der Mahavamsa keinen Zweifel.(28) Mehr noch: Die Respektsbezeugungen, die Dutthagamani seinem unterlegenen Gegner bzw. dessen Grab, das auf der Stelle seiner Niederlage und Einäscherung errichtet worden war, entgegenbrachte, wurden von seinen Nachfolgern über Jahrhunderte hinweg beibehalten: "And even to this day the princes of Lanka, when they draw near to this place, are wont to silence their music because of this worship."(29) Auf der Grundlage dieses Berichtes galt seit dem späten 19. Jahrhundert der Stupa des Dakkhina-Vihara im Süden der Zitadelle, als "Elara's tomb".(30) Im Jahre 1946 wurde der Stupa jedoch von Senarat Paranavitana erneut ausgegraben, mit dem bemerkenswerten Ergebnis, daß er nun die Asche von Dutthagamani enthalten sollte. In der Folge wurde nicht nur die offizielle Beschilderung des Stupas geändert, die seither die Bezeichnung "Dutthagamani's tomb" ausweist, sondern es wurden 1980 auch Aschenreste, die Paranavitana zutage gefördert hatte, als jene Dutthagamanis identifiziert und nach einer landesweiten Prozession wieder im Dakkhina-Stupa verwahrt.(31) Es bedurfte aber eines recht freizügigen Umgangs mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen und ihre Methodik, um den Mahavamsa in dieser Form widerlegen und den Stupa zum Dutthagamani-Stupa erklären zu können.

Schon dieser Fall zeigt, daß Chroniken und mit ihnen die gesamte Geschichte Sri Lankas in den Dienst des singhalesischen Nationalismus gestellt bzw. als Argument in der Auseinandersetzung mit den Tamilen verwendet wurden. Die beiden anderen Beispiele zeigen diesen Mißbrauch noch deutlicher. Die Chroniken hatten, wie eingangs gezeigt, eine besondere Vorliebe für jene Könige, die die gesamte Insel unter ihre Herrschaft bringen konnten. Dabei fällt aber auf, daß der Norden der Insel und insbesondere die Halbinsel Jaffna kaum je Erwähnung finden - vermutlich, weil sie damals wie heute überwiegend bis ausschließlich Siedlungsgebiet der Tamilen war.(32) Umso mehr schien es daher geboten, die Herrschaft der Singhalesen über die gesamte Insel anderweitig zu nachzuweisen. Ein willkommener Beleg in dieser Hinsicht waren die sog. Vallipuram Gold Plates, die zu Beginn des Jahrhunderts auf der Halbinsel von Jaffna entdeckt wurden. In seiner Lesart und Übersetzung von 1939 machte der schon erwähnte Senarat Paranavitana deutlich, daß Jaffna im 1. Jahrhundert unserer Zeit Teil des singhalesischen Herrschaftgebietes war, hier Singhalesisch gesprochen (zumindest geschrieben) wurde und buddhistische Einrichtungen bestanden.(33) Immerhin, dies sei zur Ehrenrettung Paranavitanas gesagt, ließ er sich später davon überzeugen, daß die Inschrift nicht in Singhalesisch geschrieben war und wiederholte diese Behauptung 1983 bei seiner Neuedition der Inschrift nicht mehr. In der aufgeheizten Atmosphäre dieser Jahre blieb sein Kurswechsel aber weitgehend unbemerkt.(34)

Mit der Stellung Jaffnas in der srilankischen Geschichte befaßt sich auch mein abschließendes Beispiel. 1978 veröffentlichte S. Pathmanathan ein Buch, in dem er das Entstehen des Königreiches Jaffnas seit der Mitte des 13. Jh. schilderte.(35) Obwohl Pathmanathan darin wenig wirklich Neues zutage förderte(36) und sich seine Darstellung gerade auch auf den Culavamsa stützte, traf er mit dem Buch einen wunden Punkt der singhalesischen Geschichtsauffassung. Im selben Jahr war ja eine neue Verfassung in Kraft getreten, die nicht nur die Einheit der Insel als Prinzip festschrieb, sondern auch den Zentralismus des politischen Systems auf ein nie dagewesenes Niveau hob. In dieser Situation auf einen eigenständigen Tamilenstaat zu verweisen, also den Föderalismus durch die Hintertür der Geschicht einzuführen, erschien als eine gezielte Provokation und wurde auch als solche verstanden. Selbst in der führenden geisteswissenschaftlichen Zeitschrift erschien eine Rezension, die dem Autor "billige Propaganda" zu "anderem Zweck als dem historischer Erkenntnis", "Besessenheit" usf. vorwarf.(37) Immerhin gab die Zeitschrift dem so angegriffenen Autor die Möglichkeit, seine Arbeit genauso ausführlich zu verteidigen(38) - in den folgenden Jahren konnten andere singhalesische Autoren in wissenschaftlichen Zeitschriften ihre Propaganda unwidersprochen verbreiten.(39)

Ich möchte meinen Vortrag mit drei Feststellungen schließen. Zunächst bieten die großen Chroniken bei unvoreingenommener Betrachtung wenig Nutzen für eine nationale Geschichte. Es ist im wesentlichen das dhammadipa-Konzept des Dipavamsa, das seine politische Schlagkraft über die Jahrhunderte hinweg bewahrte. Daß sie es dennoch wurden, ist ein Erbe des Kolonialismus, der zum einen das Instrumentarium ihrer kritischen Erforschung bereitstellte (einschließlich der Feststellung ihrer Zuverlässigkeit), ihnen zum anderen aber auch in den Händen der Nationalbewegung eine neue Rolle zuwies. Solchermaßen kanonisiert, wurden sie - in Verbindung mit anderen Altertumswissenschaften - unverzichtbarer Bestandteil des singhalesich-nationalistischen Diskurses; und einige Historikerkollegen mußten am eigenen Leibe verspüren, daß kritische Beschäftigung mit ihnen nicht mehr erwünscht war bzw. ist.

1. The Dipavamsa. An Ancient Buddhist Historical Record, hgg. und übers. von Hermann Oldenberg, London 1879 (repr. Delhi 1982, 1992); The Dipavamsa, hgg. und übers. von Bimla Churn Law, Dehiwala 1959 (= Ceylon Historical Journal 7). Aufgrund der in Kap. 18 erhaltenen Geschichte des Nonnenordens könnte das Werk auch von einer Frau verfaßt worden sein.

2. Erich Frauwallner, Über den geschichtlichen Wert der alten ceylonesischen Chroniken, in ders., Nachgelassene Werke, hgg. von Ernst Steinkellner, Wien 1984, S. 7-34 und S. 136. Grundlegend daneben Wilhelm Geiger, Dipavamsa und Mahavamsa und die geschichtliche Überlieferung in Ceylon, Leipzig 1905 (repr. Hildesheim 1976).

3. The Mahavamsa or the Great Chronicle of Ceylon, hgg. von Wilhelm Geiger, London 1912, übers. von Wilhelm Geiger, London 1917. Die letzte, ausführlich kommentierte und dokumentierte Übersetzung stammt von Ananda W. P. Guruge, The Mahavamsa, Colombo 1989.

4. Auch wenn ein endgültiger Beleg fehlt, spricht vieles für die Autorschaft des Mahanama. Vermutlich ist er mit einem der beiden Namensträger identisch, die in der Inschrift eines singhalesischen Pilgers nach Bodhgaya (Indien) genannt sind: Bodhgaya Inscription of Mahanama, in Corpus Inscriptionum Indicarum, Bd. 3, hgg. vo J. F. Fleet, Calcutta 1903, Nr. 71-72, S. 274-279. In diesem Fall würde die Inschrift einen wichtigen Hinweis auf die Enstehungszeit der Chronik liefern.

5. That [chronicle] which was compiled by the ancient [monks] was here too long drawn out and there too closely knit; and contained many repetitions. Attend ye now to this [Maha- vamsa] that is free from such faults, easy to understand and remember, arousing serene joy and emotion, and handed down [to us] by tradition...". Mv. 1.2-4.

6. Dv. 22.67-74.

7. Mv. 37.1-39.

8. So spricht etwa Steven Kemper in seinem Werk (das weiter unten noch interessieren wird) durchweg von einer "sixth century court chronicle": The Presence of the Past, Ithaca/ London 1991.

9. Hgg. und übersetzt von Wilhelm Geiger, London 19..

10. Zur Biographie Vijaya Bahus I. vgl. C. E. Godakumbura, The Culavamsa, its Authorship and Date, in Journal of the Ceylon Branch of the Royal Asiatic Society 12, 1948-49, S. 123-125, sowie Tilman Frasch, Pagan. Stadt und Staat, Stuttgart 1996, S. 328. Zu Parakkama Bahu I. vgl. Reginald Copleston, The Epic of Parakkama I, in Journal of the Ceylon Branch of the Royal Asiatic Society 23, 1893, S. 60-77. Auch Geiger sah diesen Teil der Chronik als sehr verläßlich an: The Trustworthiness of the Mahavamsa, in Indian Historical Quarterly 6 (2), 1930, S. 205-225.

11. Dieser Abschnitt dürfte wohl von dem Mönch Dhammakitti verfaßt worden sein, dem in älteren Abhandlungen oft der gesamte erste Teil des Culavamsa zugeschrieben wird (etwa Geiger, The Culture of Ceylon in Mediaeval Times, Stuttgart 1960, S. 70-71). In diesem Teil wird die Betonung der Zahnreliquie besonders deutlich, da der König sich endgültig von den beiden alten Hauptstädten der Insel, Anuradhapura und Polonnaruva, abkehrte, und nach Dambadeniya umzog. Um hier ein sacred center schfafen zu können, bedurfte es der Zahnreliquie.

12. Diese, vom Mönch Tibbotuwawe Buddharakkhita verfaßte Fortsetzung, entstand nach der Verschwörung gegen den König Kirtti Sri Rajasimha (1753). In der Fortschreibung der Chronik ist daher auch der Versuch des Königs zu erkennen, sich über seine Einbettung in die Geschichte Sri Lankas zusätzliche Legitimation zu verschaffen. Daneben ist zu beachten, daß der Verfasser Buddharakkhita Schüler des Velivitiya Saranamkara war, der wegen seiner führenden Rolle in der Verschwörung für einige Zeit verbannt aus Kandy verbannt worden war.

13. Edward Upham, The Sacred and Historical Books of Ceylon, 3 Bde., London 1833.

14. George Tunour, The Mahavamsa Translated, Cotta 1837. Die um L. C. Wijesinhas Übersetzung des Culavamsa erweiterte Ausgabe erschien 1877.

15. Hermann Oldenberg (Hg./Ü.), The Dipavamsa, an Ancient Historical Record of Ceylon, London 1879; Wilhelm Geiger (Hg./Ü.), The Mahavamsa, London 1909 (ed.) und 1912 (trsl.); ders. (Hg./Ü.), The Culeavamsa, Being the More Recent Part of the Mahvamsa, London 1923-1929.

16. Bereits 1935 hatte der Mönche Yagirala Pannananda den Mahvamsa um einen Abschnitt zur Kolonialepoche erweitert: Mahavamsa, Part III, Gonagala 1935. The Dipavamsa, pt. II, by Ahungalle Wimalakitti Mahanayak, Alutgama 1959. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, daß 1959 der Dipavamsa selbst in einer neuen Übersetzung (von B. C. Law) erschien - als Band 4 des Ceylon Historical Journal !

17. Steven Kemper, The Presence of the Past. Chronicles, Politics and Culture in Sinhala Life, Ithaca/London 1991, S. 2.

18. The Dipavamsa, edited and translated into Sinhalese by P. Nanananda Thera, Panadura 1927.

19. Gerade westliche Autoren verwiesen immer wieder darauf, daß die Chroniken dieser kritischen Überprüfung standhalten sollten (so Reginald Copleston, The Verification of the Ancient Chronicles and Histories of Ceylon, in Jornal of the Ceylon Branch of the Royal Asiatic Society 12, 1892, S. 161-172) und auch standhielten (Harry C. Norman, A Defence of the Chronicles of the Southern Buddhists, in JRAS 1908, S. 1-16, repr. in Mahabodhi 16, 1908, S.169-171 et sqq.). Auch Geiger verwies in seinen Übersetzungen stets auf Übereinstimmungen von inschriftlichen Angaben mit einzelnen Chronik-Versen.

20. Zu Werk und Leben Bells vgl. in Sri Lanka Journal of the Humanities 1989 und jetzt auch die Biographie seiner Enkeltöchter B. N. Bell/H. M. Bell, H. C. P. Bell and the Archaeology of Ceylon and the Maldives, Denbigh 1993.

21. Zur Rolle der Mythen vgl. R. A L. H. Gunawardana, The Kinsmen of the Buddha. Myth as a Political Charter in the Ancient and Mediaeval Kingdoms of Sri Lanka, in The Sri Lanka Journal of the Humanities 2, 1976, S. 53-62.

22. Heinz Bechert, Buddhismus, Staat und Gesellschaft in den Ländern des TheravÁda-Buddhismus, Bd. 1 (Grundlagen, Ceylon), Hamburg 1966, S. 372-373.

23. Arnold Gurusinghe, Dr. G. C. Mendis and the Mahavamsa. Criticism or Sterile Scepticism?, Colombo 1935.

24. G. C. Mendis, The Pali Chronicles of Ceylon. An Examination of the Opinions Expressed about them since 1879, in UCR 4, 1946, S. 1-24; ders., The Chronology of the Early Pali Chronicles of Ceylon, in UCR 5, 1947, S. 39-54.

25. G. C. Mendis, The Mahabharata Legends in the Mahavamsa, in J Ceylon Branch RAS (new ser.) 5, 1957, S. 81-87; ders., The Vijaya Legend, in Paranavitana Felicitation Volume, ed. by N. A. Jayawickrama, Colombo 1965, S.263-293.

26. Vgl. Jakob Rösel, Gestalt und Entstehung des singhalesischen Nationalismus, Berlin 1996, S. 177-188, sowie Kemper, Presence in the Past, S.

27. S. zum sog. "Dutthagamani-Elara-Epos" etwa die Kontroverse zwischen W. I. Siriweera, The Dutthagamani-Elara Conflict. A Historical Reinterpretation, in MCS 7 (1-2), 1976, S. 76-95, und Jotiya Dhirasekera, Dutugemunu Episode Re-examined, in JRAS of Sri Lanka 32, 1987-88, S. 25-44.

28. Mv. 21.14.

29. Mv. 35.74.

30. Cp. the excavation reports of H. C. P. Bell in Annual Report of the Arch. Survey of Ceylon, 1896, S. 4, 1897, S. 6. 1898, S. 5, und 1898, S. 4.

31. Als glänzende Zusammenfassung dieses Problems s. James T. Rutnam, The Tomb of Elara at Anuradhapura, Jaffna (2. Aufl.) 1988.

32. Vgl. zu diesem Punkt Wilhelm Geiger, The Culture of Ceylon in Mediaeval Times, ed. by Heinz Bechert, Stuttgart (2. Aufl.) 1985, S. 108.

33. EZ 4, Nr., S. 237.

34. Vgl. dazu R. A. L. H. Gunawardana, Historiography in a Time of Ethnic Conflict, Colombo 1995, S. 10-15.

35. S. Pathmanathan, The Kingdom of Jaffna, pt. 1 (1250-1490), Colombo 1978.

36. Gemessen etwa an Darstellungen wie C. Rasanayagam Mudaliyars Ancient Jaffna. Being a Research into the History of Jaffna from very Early Times to the Portuguese Period, Madras 1926 (repr. Delhi 1984, 1993).

37. P. A. T. Gunasinghe, Review, in The Sri Lanka Journal of the Humanities 4, 1978, S. 99-112.

38. S. Pathmanathan, The Kingdom of Jaffna - Propaganda or History, in ibid. 5, 1979, S. 101-125.

39. Als ein Beispiel unter vielen zum Problem von Jaffna sei hier auf den Aufsatz von A. Denis N. Fernando verwiesen: Peninsular Jaffna from Ancient to Medieval Times, in Journal of the Royal Asiatic Society of Sri Lanka 32, 1989, S. 63-90, der eine singhalesischen Siedlung an den Anfang stellt und auch das Königreich Jaffna als einen Flickenteppich verschiedener Kleinherrschaften darstellt. Vgl. dazu jetzt auch S. Ranwella, "The So-Called Tamil Kingdom of Jaffna", im Internet unter http://www.spur.asn.au (Vereinigung der in Australien lebenden Singhalesen) zu finden.



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