Besprechung, Orientalistische Literaturzeitung, Berlin. 93(1998)3.

Veit, Wolfgang: Finanzsektor, Währungsordnung und wirtschaftliche Entwicklung am Beispiel Indiens. Stuttgart: Steiner. 1995. XIV, 268 S. gr. 8° = Beiträge zur Südasienforschung. Südasien-Institut, Universität Heidelberg, 165. Kart. DM 90,00. - Bespr. von Wolfgang-Peter Zingel, Heidelberg.

"Mit der vorliegenden Arbeit soll ein Beitrag zur jüngeren Diskussion um die Funktionsfähigkeit von Finanzmärkten in Entwicklungsländern geleistet werden. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Fragen der institutionellen Ausgestaltung des Finanzsektors gerichtet: wieviel Regierung ist nötig, wieviel Spielraum für Marktkräfte ist möglich" (S. 4). Ziel ist es, "die analytischen Grundlagen für solche Reformpolitiken zu schaffen, die die Leistungsschwäche des indischen Finanzsektors reduzieren können, und schließlich die Erarbeitung von Optionen für ebensolche Reformen." (S. 2). Der formale Rahmen für dieses anspruchsvolle Vorhaben ist eine Dissertation aus der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Heidelberg (1993); Indien dient als Beispiel für die theoretische Auseinandersetzung. Die Frage, inwieweit und wofür Indien, das bekanntlich nach der Unabhängigkeit einen wirtschaftspolitischen Sonderweg einschlug, als Beispiel dienen kann, stellt der Autor nicht; die ersten zwei Drittel der Arbeit behandeln Fragen der Wachstumstheorie und Finanzierungsprozesse (Kap. 1), der finanziellen Entwicklung (Kap. 2) und der Währungsordnung und der Akteure auf dem Finanzmarkt (Kap. 3) in allgemeiner Art; Indien wird - wie andere Länder - nur gelegentlich erwähnt. Deshalb ist auch gar kein Raum, den Finanzsektor, die Währungsordnung und die wirtschaftliche Entwicklung Indiens detailliert vorzustellen; wer sich hierüber informieren will, ist auf die einschlägige Literatur angewiesen; tatsächlich behandelt der landesspezifische Teil (Kap. 5) nur den Finanzsektor Indiens; auf die Währungsordnung Indiens wird nicht explizit eingegangen; die wirtschaftliche Entwicklung Indiens wird in soweit angesprochen, als davon ausgegangen wird, daß die Störungen des Finanzsektors - etwa durch die Erhebung von Steuern - (financial repression) und der Verzicht auf seinen Ausbau (financial deepening) zu Verlusten an wirtschaftlichem Wachstum führten, ein Problem, das Indien mit vielen anderen Entwicklungsländern gemeinsam hat. Am Ende der Arbeit finden sich Verbesserungsvorschläge des Autors, die er den Empfehlungen der Narasimha-Kommission gegenüberstellt. Kurze Schlußbemerkungen (Kap. 5), das Literaturverzeichnis (meist theoretische und vergleichsweise wenige Indien-spezifische Titel) und eine englische Zusammenfassung schließen die Arbeit ab; ein Index findet sich leider nicht.

Eine orientalistische Literaturzeitung mag kaum der Ort für eine Diskussion wirtschaftswissenschaftlicher Spezialfragen sein; ihre Leser dürften aber umso kritischer Verallgemeinerungen gegenüberstehen. Wenn es etwa in der Zusammenfassung der ausführlichen Erörterung finanzieller Entwicklung heißt, daß der "offene contingency-claims Vetrag" unter den "besonderen Bedingungen der Finanzmärkte in Entwicklungsländern" eine Basis bieten kann, weil er die "nötige Flexibilität auf[weist], um die Neigung zu opportunistischem Verhalten bei den Vertragsparteien durch Sanktionen zu mindern oder zu beseitigen" (S. 113), so mag man dem zustimmen, allerdings weniger, wenn man wenige Seiten vorher gelesen hat, daß hier "Anspruch auf unbegrenzte Rationalität (Fähigkeit zur Berücksichtigung aller Eventualitäten (= contigencies))" (S. 91) erhoben werden kann. Zu den Spezifika des Kreditwesens in Indien (und nicht nur dort) zählen die vielen säumigen - großen - Schuldner, die häufig eher zahlungsunwillig als zahlungsunfähig sind, in der berechtigten Erwartung, daß ihnen die Schulden erlassen werden. Hier handelt es sich weniger um ein Problem der Vertragsausgestaltung als um ein gesellschaftliches Problem, ist doch bekannt, daß es gerade in Indien nicht an ausgefeilten Rechtsbestimmungen fehlt. Das Problem der erheblichen non performing assets, d.h. der Kredite, für die weder Zinsen noch Amortisation gezahlt werden, auf das das Narasimha Committee in seinem Bericht hinweist (S. 240ff.), tritt offen zu Tage, wenn die staatlichen Banken privatisiert werden sollen. In einem solchen Fall würde sich die Regierung aber ihrer "Commanding Heights der Wirtschaft" berauben (S. 246). Spätestens an dieser Stelle hätte es sich angeboten, die im Titel der Arbeit angelegten Zusammenhänge eingehend aufzuzeigen. Zuzustimmen ist dem Autor, daß in Indien und anderswo dem Finanzsektor Aufgaben zugewiesen wurden und werden, die im weitesten Sinne entwicklungspolitisch sind und das System überfordern; dies hat u.a. zur Folge, daß die indische Rupie (und andere Währungen) nur noch reine Binnenwährungen sein konnten und können; die Frage der Währungsordnung stellt sich deshalb nicht nur (wie in der Arbeit) im nationalen Rahmen. Zuzustimmen ist dem Autor auch, daß die Vorschläge des Narasimha Committee "jeweils für sich genommen die Arbeitsweise des Finanzsektors verbessern dürften, daß jedoch eine neue "Währungs- und Finanzverfassung" noch aussteht." (S. 247). In seinen eigenen Vorschlägen (S. 234ff.) geht der Autor auf das Problem der Altschulden nicht ein - eine Folge des gewählten Ansatzes, in dem Indien nur als Beispiel dient und nur die in den theoretischen Teilen herausgearbeiteten Fragestellungen weiter verfolgt werden. Die anfangs angekündigten "Optionen" und am Ende der Arbeit die svorgestellten "Reformvorschläge" (S. 237ff.) betreffen die Zentralbank (größere Unabhängigkeit), die Finanzinstitute (Privatisierung) und die Informationsbereitstellung (Wertpapiermärkte). Die Vorschläge bewegen sich im Rahmen dessen, was man in Indien seit 1991 unter dem Schlagwort "Liberalisierung" zu realisieren versucht. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Arbeit abgeschlossen (die neueste herangezogene Literatur datiert 1991), auf die neuere Entwicklung konnte deshalb nicht eingegangen werden. Wie sich gezeigt hat, sind die Zielvorstelllungen auch gar nicht (mehr) kontrovers, wohl aber der Weg, sie zu erreichen; vgl. dazu aktuell: Kanta Ahuja: The Banking Sector After the Reforms. Presidential Address to the 79th Annual Conference of the Indian Economic Association. In: The Indian Economic Journal. 44(April-June 1997)4. S. 3-18.

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