Wolfgang-Peter Zingel
Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Lehrstuhl für internationale Wirtschafts- und Agrarpolitik

Vom "Faß ohne Boden" zur Hochkonjunktur?
Bangladeshs wirtschaftliche Entwicklung

In: "25 Jahre Bangladesh". NETZ, Zeitschrift für Entwicklung und Gerechtigkeit. Wetzlar. Nr. 1/97, pp. 19-21.

"Bangladesh: das Land der unbegrenzten Möglichkeiten!" Mit diesem Slogan wirbt die Regierung von Bangladesh um ausländische Investoren in den bedeutendsten internationalen Wirtschaftsblättern. "Entdecken Sie Bangladesh and lassen Sie Ihr Geschäft boomen" und "Bangladesh: entdecken Sie die Potentiale" sind ebenso reißerische Slogans. Das überrascht diejenigen, die Bangladesh nur als Synonym für alle Schrecken eines Entwicklungslandes kennen: Bevölkerungsexplosion und Überbevölkerung, Hunger und Armut, Naturkatastrophen, religiöser Fanatismus und politische Querelen.

Bangladesh ist aber auch das Land, in dem im Herbst 1996 die Börsenkurse explodierten: binnen dreier Monate stiegen sie auf den mehr als dreifachen Wert; vor wenigen Jahren schaffte es Bangladesh als einziges Land Asiens, eine jährliche Inflationsrate von Null aufzuweisen, das ländliche Kredit-Programm der Grameen Bank gilt als vorbildlich und trug seinem Initiator, Professor Mohammed Yunus, unter anderem den Simon-Bolivar-Preis der UNESCO ein; er ist in Deutschland bekannt, seit der STERN 1995 einen großen Bericht über den "Bankier der Armen" brachte. Für das Jahr 1997 prophezeit die renommierte Londoner Economist Untelligence Unit ein wirtschaftliches Wachstum von sechs Prozent; Bangladesh würde so zu den zwanzig weltweit am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften gehören. Damit ist zwar die Zeit des seit Generationen besungenen "Sonar Bangla", des "Goldenen Bengalen" noch nicht wieder angebrochen, aber ein "hoffnungsloser" Fall, ein "basket case", wie der frühere amerikanische Außenminister Henry Kissinger es einmal nannte, ist Bangladesh auch nicht mehr.

Zur Ehrenrettung der Vereinigten Staaten sei gesagt, daß sie Bangladesh nicht als "basket case" behandelten, als eine Geburt, der man keine Überlebenschancen einräumt, einen Fall für den Mülleimer; gerade sie halfen mit ihrer Entwicklungshilfe das Land nach dem verheerenden Unabhängigkeitskrieg (1971) auf die Beine zu stellen.

Es war allerdings auch keine "Geburt" einer neuen Nation: Bengalen ist eine der alten Kulturregionen der Welt mit schriftlichen Zeugnissen aus zwei Jahrtausenden. Das Bengalen des Deltas von Ganges und Brahmaputra, das östliche Bengalen, das heute Bangladesh bildet, hat immer seine kulturellen Eigenheiten gehabt; der Islam ist hier seit acht Jahrhunderten verwurzelt; das Zusammenleben von Hindus und Muslimen war nur selten der Anlaß für "kommunale", sprich: religiöse, Auseinandersetzungen. So stammt der Text der Nationalhymne Bangladeshs, der die tiefe Liebe der Bevölkerung zu ihrer "Mutter Bengalen" ausdrückt, von einem Hindu, dem Dichter und ersten (gesamt-)indischen Nobelpreisträger, Rabindranath Tagore.

Die Ausgangslage 1971

Durch die Abtrennung von Indien 1947, damals noch als östlicher "Flügel" Pakistans, und später die Sezession von Pakistan entstand ein ethnisch und linguistisch homogener Staat wie kaum ein anderer: fast alle Bewohner sind Bengalen und sprechen Bengali. Da mangelnde Homogenität gemeinhin als Entwicklungshindernis betrachtet wird, hatte Bangladesh in dieser Hinsicht gute Karten bei der Unabhängigkeit. Zwei Jahrhunderte kolonialer Ausbeutung (durch die Briten) und ein Vierteljahrhundert Vernachlässigung (in Bangladesh spricht man auch hier von Ausbeutung) durch die eigenen Landsleute (aus dem westlichen Landesteil Pakistans) werden dafür verantwortlich gemacht, daß Bangladesh zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeit noch ein Agrarstaat war, der seine Bevölkerung nicht ernähren konnte und dessen einziges Exportprodukt, Jute, nicht diejenigen Exporterlöse zu erwirtschaften vermochte, mit denen man die erforderlichen Nahrungs- und Investitionsgüter hätte importieren können.

Nach dem Ende der Kampfhandlungen, die mehrere hunderttausend Opfer gefordert hatten (Schätzungen gehen bis zu drei Millionen), mußten an die zehn Millionen aus Indien zurückkehrende Flüchtlinge wieder eingegliedert und Brücken, Fähren und Häfen instandgesetzt werden. Dem Bürgerkrieg war 1970 die schlimmste Flutkatastrophe des Jahrhunderts vorausgegangen (geschätzte 300.000 Opfer); so war die Wiederherstellung der Transportverbindungen eine erste existentielle Aufgabe. Indien hatte sich im Bürgerkrieg als einziger verläßlicher Bundesgenosse erwiesen, nachdem es sich in der Sowjetunion Rückendeckung verschafft hatte. Die indische Armee befreite Bangladesh vom westpakistanischen Militär; zugleich wurden die fast durchweg westpakistanischen Unternehmer vertrieben und ihr Besitz nationalisiert, was in diesem Zusammenhang gleichermaßen das Überführen in nationale (bangladeshische) wie staatliche Hände bedeutete. Außen-, innen- und wirtschaftpolitisch war es nur konsequent, daß Bangladesh eine "Volksrepublik" wurde (und noch heute ist). In der Hochzeit des kalten Krieges hatte das arme Bangladesh jedoch einen ungleich geringeren politischen Spielraum als das zwar ebenfalls arme, aber strategisch bedeutende Indien. Als 1974 eine Mißernte zu spät erkannt wurde, bekam Bangladesh den Unmut der Amerikaner zu spüren: Jutelieferungen an das mit einem Embargo belegte Kuba mußten dazu herhalten, Bangladesh die Hilfe zu sperren (eine Ausnahme wäre möglich gewesen); die folgende Hungersnot trug zur politischen Destabilisierung bei, in deren Gefolge Präsident Mujibur Rahman und seine Familie (1975) bei einem Staatsstreich ermordet wurden. Diese Geschehnisse sind wieder von großer Aktualität: die Tochter Mujibur Rahmans, Sheikh Hasina Wajid, gewann 1996 die Wahlen und ist die neue Ministerpräsidentin; der Mord an ihrer Familie soll jetzt endlich vor Gericht aufgeklärt werden. In den zwei Jahrzehnten dazwischen gab es auch weiterhin dramatische Wechselwirkungen zwischen Politik (Innen- und Außen-) und Wirtschaft.

Als Agrarland ist Bangladesh ganz besonders von der Witterung abhängig: die Niederschläge des Monsun fallen überwiegend in den Sommermonaten und erlauben im Regenfeldbau eine Ernte; jedes zuviel oder zuwenig, zu früh oder zu spät, bedroht die Lebensgrundlage der meisten Bengalen. Von Mißernten und einer Hungersnot wie 1943 blieb das Land verschont, umso dramatischer waren Überschwemmungen und Wirbelstürme (1991: über 150.000 Tote): Die hohe Bevölkerungsdichte mit etwa 800 je Quadratkilometer höher als in jedem anderen Flächenstaat der Erde läßt die Menschen immer mehr im Küstengebiet siedeln, wo sie von der Sturmflut bedroht sind, und wo sie die schützenden Mangroven-Wälder abholzen. Weiter weg von der Küste staut sich das Wasser während der Regenzeit (wenn zugleich die Schmelzwässer des Himalaya ablaufen) in den großen Senken und überflutet auch die kleinen Warften, auf denen die Menschen in Streusiedlungen wohnen.

Kann Bangladesh sich selbst ernähren?

Entgegen manchen Befürchtungen hat das Bevölkerungswachstum nicht die extremen Raten erreicht wie etwa im heutigen Pakistan und ist rückläufig. Zugleich konnten die Flächenerträge in der Landwirtschaft gesteigert werden: Landreserven für eine Ausweitung der Anbauflächen sind keine vorhanden; eine Erhöhung der Anbauintensität (Mehrfachernte) stellt hohe Anforderung an die Bewässerung und läßt sich nur langsam erreichen. So ist eine hinreichende Nahrungsversorgung der Bevölkerung noch immer nicht aus eigener Ente möglich; der Anteil der Nahrungsimporte ist aber (relativ) wenigstens nicht steigend.

Die Finanzierung der Importe ist heute aber ganz anders möglich, als sich dies zum Zeitpunkt der Trennung von Pakistan absehen ließ. Die einseitige Abhängigkeit von der Jute gehört der Vergangenheit an. Die Suche nach Ersatz führte erst einmal zu neuen Problemen, als der Export von Froschschenkeln in großem Stil ökologische Probleme (die Frösche fressen Schädlinge) und internationalen Protest nach sich zog. Dafür gelang es, die billigen Löhne zu nutzen: Fertigtextilien stellen auch nach Abzug der dafür erforderlichen Importe heute den wichtigsten Exportartikel dar. Es gilt als Erfolgt, daß die Ausfuhrerlöse wenigstens die Hälfte der Einfuhren finanzieren; dazu kommen die Heimüberweisungen der Arbeiter im Ausland: Den Rest finanziert nach wie vor das Ausland durch Geschenke und Kredite zu Vorzugskonditionen, d.h. staatlich verbürgt, zu niedrigen Zinsen und mit langen Laufzeiten.

Liberalisierung der Wirtschaft

Früher als Pakistan und Indien begann Bangladesh mit einer Liberalisierung seiner Wirtschaft; es sind zwar noch keine Erfolge wie in Südostasien zu verzeichnen, aber eine gewissen Dynamik ist unverkennbar. Allerdings besteht die Gefahr eines überzogenen Erwartungsdrucks, etwa bei der Grameen-Bank, die heute auf 300.000 Eigner/Kunden angewachsen ist und sich um eine Lizenz für ein Netz von Satelliten-Telefonen ("Handies") bewirbt. Nach ersten Erfolgen bei Textilexporten wurde Bangladesh auch heftig wegen der verbreiteten Kinderarbeit angegriffen und mit Boykott, vor allem in den USA, bedroht. Inzwischen ist dort die Einsicht gestiegen, daß ein einfaches Verbot die soziale Lage der Kinder nicht verbessert und zudem Einkommenshilfen und die Möglichkeit eines Schulbesuchs Voraussetzung sind.

Eine Verbesserung der Beziehungen zu Indien, dem neben Myanmar einzigen Nachbarland, wäre auch in wirtschaftlicher Hinsicht wünschenswert; Bangladeshs Verhandlungsmacht beschränkt sich auf das Störpotential des Landes, etwa die Verweigerung des Transitverkehrs nach Assam. Daß Indien Bangladesh das (in der Trockenzeit) so dringend benötigte Wasser durch ein Sperrwerk über den Ganges bei Farakka "abdrehen" kann, verbittert die Bangladeshi; der gerade mit Indien abgeschlossene Vertrag wird deshalb von der Opposition als Ausverkauf nationaler Interessen heftig kritisiert, und sie hat entschiedenen Widerstand angekündigt.

Bedeutung der Auslandshilfe

Wasser ist auch sonst Thema Nummer Eins: Der Flood Action Plan, ein Flußregulierungsprogramm größten Ausmaßes, wird heftig kritisiert (Gabriele Venzky in Die Zeit: Kathedrale der Unvernunft); das Ausland, das ihn finanzieren soll, wird ebenso heftig kritisiert. Zur Auslandshilfe, der das Land ohne Übertreibung sein Überleben verdankt, haben vor allem die Intellektuellen des Landes ein zwiespältiges Verhältnis: gerade die städtische Mittel- und Oberschicht profitiert von ihr; der Empfang ausländischer Hilfe und der Ratschlag ausländischer Experten sind aber auch Beweise wirtschaftlicher (und sonstiger) Abhängigkeit. Der Wildwuchs hunderter mehr oder weniger staatlicher (und nur selten wirklich nicht-staatlicher) Organisationen erschwert die Formulierung und Durchsetzung einer konsistent nationalen Entwicklungspolitik und begünstigt die Korruption. Daß Dhaka auf eine Einwohnerzahl von 10 Millionen zusteuert und eine der am schnellsten wachsenden Metropolen ist, hat seine Ursache nicht zuletzt darin, daß die Hauptstadt von der Auslandshilfe am besten erreicht wird.

Welches Fazit läßt sich nach 25 Jahren Wirtschaftsentwicklung ziehen? Bangladesh, keineswegs ein "hoffnungsloser" Fall, ist von einem spektakulären Wirtschaftsaufschwung noch weit entfernt. Die phantastischen Kurssteigerungen, von denen am Anfang die Rede war, sind nur deswegen möglich, weil nur wenige Werte gehandelt werden und das Volumen gering ist. Eine Umstrukturierung hat vor allem der Exporte stattgefunden, ein Vordringen in "high tech" Bereiche ist aber noch nicht abzusehen. Das Nachbarland Indien, pro Kopf fast ebenso arm wie Bangladesh, hat mit seinen Software-Exporten vorexerziert, daß sich Entwicklungschancen auch für Länder bieten, die wirtschaftlich noch weit zurück liegen. Die Erfahrungen der Staaten in Ost- und Südostasien erlauben einige Verallgemeinerungen, die für Bangladesh gelten sollten: danach sind eine gute Volksbildung, eine ausgebaute Infrastruktur und eine gewisse Rechtssicherheit für die wirtschaftliche Entwicklung unabdingbar; die Ausstattung mit natürlichen Bodenschätzen und die verkehrsmäßige Lage haben dagegen heute nicht mehr die Bedeutung, die man Ihnen früher zumaß.

Nachtrag: Dieser Original-Text wurde von NETZ für die Veröffentlichung redaktionell überarbeitet.