"Würde Pakistan geschwächt, hätte das verheerende Konsequenzen"

Der Heidelberger Wissenschaftler Wolfgang-Peter Zingel über einen Angriff auf Afghanistan, drohende Folgen für die Region und mögliche Vorbeugemaßnahmen.

Von unserem Redaktionsmitglied Steffen Mack

Ein Angriff der Amerikaner auf Afghanistan könnte schlimme Folgen für die Region haben. Besonders der große Nachbar Pakistan - immerhin Atommacht - wäre betroffen. "Das könnte den Staat zerreißen", warnt Wolfgang-Peter Zingel, Pakistan-Experte an der Uni Heidelberg, im Interview mit unserer Zeitung.

Der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat gerade versichert, man bereite keineswegs eine Invasion in Afghanistan vor. Das dürfte man in Pakistan mit Freude hören, oder?

WOLFGANG-PETER ZINGEL: In Afghanistan mit Bodentruppen einzumarschieren, wäre ohnehin kaum möglich - weder im Süden von Pakistan noch im Norden von Tadschikistan aus.

Warum nicht?

ZINGEL: Da empfehle ich einen Blick in die afghanische Geschichte. Die ist voller fehlgeschlagener Versuche, das Land gewaltsam zu besetzen.

Welche Folgen hätte denn ein massiver Angriff für Pakistan?

ZINGEL: Das könnte den Staat zerreißen.

Weil die Taliban auch in Pakistan viele Anhänger haben?

ZINGEL: Nicht nur das. Mehr als die Hälfte aller Afghanen gehören zur Volksgruppe der Paschtunen, die auch in Pakistan wohnen und dort im Grenzgebiet konzentriert sind. Die Grenze zwischen beiden Staaten wurde vor über 100 Jahren von den britischen Kolonialherren willkürlich gezogen. Sprache und Sozialstrukturen sind dies- und jenseits identisch.

Was würde ein Angriff auf ihre afghanischen Brüder für die pakistanischen Paschtunen bedeuten?

ZINGEL: Das wäre fatal. Die Paschtunen haben ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl - und einen sehr strengen Ehrenkodex. Dazu gehört auch, dass man einen Gast nicht wegschickt, sondern ihn allenfalls auffordert, freiwillig zu gehen.

Das heißt, die Aufforderung der Taliban an Osama bin Laden, das Land zu verlassen, war mehr als ein Spiel auf Zeit?

ZINGEL: So ist es. Das Gastrecht und die Pflichten des Gastgebers haben dort einen sehr hohen Stellenwert. Ein Verstoß dagegen ist mit das Schlimmste, was passieren kann. In diesem Sinne ist wohl auch die Erklärung der Taliban zu verstehen, man wisse nicht, wo bin Laden sich aufhält.

Also muss man ihn auch nicht schützen?

ZINGEL: Genau. Wenn er seinen Gast nicht finden kann, ist der Gastgeber aus seinen Pflichten entlassen.

Glauben Sie, dass die Taliban den Aufenthaltsort bin Ladens kennen?

ZINGEL: Ich vermute schon. Taktische Erklärungen sind ja auch in der westlichen Politik nicht ungewöhnlich . . .

Was ist, wenn Washington dieTaliban dennoch für bin Laden verantwortlich macht?

ZINGEL: Dann haben wir eine sehr gefährliche Situation. Sollte die pakistanische Regierung einen amerikanischen Angriff unterstützen, würde sie sich gegen die eigene Bevölkerung stellen.

Könnte es zu einem gewaltsamen Umsturz in Pakistan kommen?

ZINGEL: Ich bin gegen solche Spekulationen. Fakt ist, dass die Paschtunen auch im Militär sehr stark vertreten sind.

Muss man sich Sorgen wegen der pakistanischen Atomwaffen machen?

ZINGEL: Nein, soweit wird es nicht gehen.

Wer kontrolliert denn die Atomwaffen?

ZINGEL: Soweit bekannt, nur die engste Militärführung. Es handelt sich um gut ausgebildete Offiziere, die dem Ideal des Berufssoldaten huldigen.

Mit welchem Szenario muss schlimmstenfalls gerechnet werden?

ZINGEL: Sollte die Ordnungsmacht Pakistan geschwächt werden, hätte das für die gesamte Region verheerende Konsequenzen. Denken Sie nur an den ständigen Konflikt mit Indien um Kaschmir. Auch viele kleinere Krisenherde könnten sich auswachsen.

Wie kann der Westen dem vorbeugen?

ZINGEL: Militärische Aktionen müssen so begrenzt wie möglich gehalten werden.

Welche Maßnahmen der USA wären denn in der Region vertretbar?

ZINGEL: Schwer zu sagen. Der Einsatz von Bodentruppen und Opfer unter der Zivilbevölkerung wären es auf keinen Fall. In Pakistan legt man zudem großen Wert auf eine formelle Erlaubnis des UN-Sicherheitsrats, Gewalt anzuwenden.

Aber hat der Sicherheitsrat nicht bereits grünes Licht gegeben, indem er das Recht der USA auf Selbstverteidigung gegen die Anschläge ausdrücklich anerkannt hat?

ZINGEL: Das ist wohl Interpretationssache und eine Frage des Völkerrechts. In jedem Fall wäre in Pakistan der Eindruck fatal, die USA handelten gegen den Willen der Vereinten Nationen.

Was könnten finanzielle Hilfen bewirken?

ZINGEL: Mit kurzfristigen Hilfen ist es nicht getan. Die sind zwar notwendig, um insbesondere das Flüchtlingsdrama an der afghanischen Grenze zu lindern. Doch die Region braucht langfristige Unterstützung.

Wirtschaftlicher Art?

ZINGEL: Nicht nur. Man sollte auch beim Aufbau demokratischer Strukturen helfen. Pakistan ist ja nach wie vor eine Militärdiktatur, mit solchen Leuten sollten demokratische Staaten nur im Notfall zusammenarbeiten.

Auf den können sich die USA berufen.

ZINGEL: Mag sein. Aber dass sie sich häufiger die falschen Freunde aussuchen, sollte den Amerikanern zu denken geben. Immerhin haben sie die Taliban früher kräftig unterstützt. Noch vor kurzem hofierte Washington das Taliban-Regime . . .

. . .weil man mit ihm gemeinsam eine Pipeline bauen und Erdölvorkommen in der Region kontrollieren wollte.

ZINGEL: So ist es. Für diesen Fehler müssen die USA heute teuer bezahlen.



Das Interview erschien im Mannheimer Morgen am 29. Oktober, 2001, und wurde vom Mannheimer Morgen im Internet veröffentlicht unter http://www.morgenweb.de/archiv/2001/anschlaege_usa/20010927/20010927_interview_zingel.html


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