Wolfgang-Peter Zingel
Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik
 

Genug Nahrung für eine Milliarde Inder?
Veröffentlicht in: Werner Draguhn (Hrsg.): Indien 1999: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Hamburg: Institut für Asienkunde. 1999. pp. 217-233. ISSN 1436-1841. ISBN 3-88910-225-5.
 

Die ständige Gefahr einer Hungersnot

Jedes Jahr im Juni wartet man in Indien auf den Beginn des Monsun, der binnen weniger Wochen den Regen bringen wird und die frische Saat aufgehen läßt. Kommt er einmal nicht oder spät oder zuwenig oder zuviel ist die Ernte gefährdet.(1) Das letzte Mal, daß Indien von einer großen Dürre heimgesucht wurde, war 1987. Damals konnte eine Katastrophe abgewendet werden, anders als 1943, als es zur größten Hungersnot dieses Jahrhundert, dem Great Bengal Famine (Schätzungen gehen bis drei Millionen Todesopfern), kam. Im letzten Jahrhundert hatte es in jedem Jahrzehnt ein bis zwei Hungersnöte gegeben; der Hungersnot in Orissa im Jahre 1866 soll ein Viertel, derjenigen in Bengalen 1770 ein Drittel bis die Hälfte, der Bevölkerung zum Opfer gefallen sein.(2) Kein Wunder, daß Indien zu einem Inbegriff für Hunger und Unterernährung wurde.

Seit alters her dient die künstliche Bewässerung der "Emanzipation vom Monsun" (Rothermund), aber erst mit der Anlage der großen Bewässerungskanäle und Rückhaltebecken seit dem neunzehnten und dem Einsatz von Motorpumpen im zwanzigsten Jahrhundert aus großer Tiefe gefördert werden, können extreme Ernteschwankungen verhindert werden.(3) Bis zum Bau der Eisenbahnen ab der Mitte des letzten Jahrhunderts waren die meisten Hungersnöte regional begrenzt; nun konnten lokale Versorgungsengpässe durch Lieferungen aus anderen Regionen des Landes ausgeglichen werden, ein System, das an seine Grenzen stieß, als die Japaner im Zweiten Weltkrieg Birma, das Hauptüberschußgebiet Britisch-Indiens, besetzten, und die Versorgung der großen Städte ins Stocken geriet. Die gerade eingeführte kriegsbedingte Zwangsbewirtschaftung verschlimmerte anfangs die Lage anstatt sie zu lindern: Lieferungen einiger anderer Überschußgebiete wurden zum Zwecke der Sicherstellung der eigenen Versorgung unterbunden, dazu kamen Hamsterkäufe der Verbraucher und Hortungen der Händler in Erwartung weiter steigender Preise. In Bengalen, wo man eine Invasion der Japaner befürchtete, akzentuierte sich diese Entwicklung.(4) Wie viele Opfer die Hungersnot schließlich forderte, beschäftigt seitdem die Historiker; bedeutender ist aber, daß sich diese Tragödie in das kollektive Gedächtnis der Inder, und zumal der Bengalen, eingegraben hat.

Mit der Verleihung des von der schwedischen Staatsbank zu Ehren Alfred Nobels gestifteten Preises an den indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen im Jahre 1998 hat die Forschung über Hungersnöte und ihre Ursachen erneute Aktualität gewonnen.(5) Die darauf einsetzende Diskussion der Würdigung seines Werkes, gerade und auch unter seinen Fachkollegen, deutet auf ein gewisses Unbehagen hin: erstens geht es dabei um die Frage, ob er "nur" für diesen Teil seiner Arbeit den Preis bekam, zweitens, ob Arbeit über Armut preiswürdig, und drittens, ob die Suche nach nicht-ökonomischen Ursachen der Armut ein legitimes Betätigungsfeld für Wirtschaftswissenschafter sei. Der erste Teil der Diskussion ist schnell abgetan, da er auf Unkenntnis beruht: Professor Sen bekam die Würdigung keineswegs nur für seine Arbeit auf dem Gebiet der Wohlfahrtstheorie: er machte sich schon früher einen Namen mit seinen Arbeiten zur public choice. Der zweite Teil der Diskussion gipfelt im Vorwurf, daß die Einsicht, daß Hungersnöte keineswegs auf Mißernten und einen Mangel an Nahrungsmitteln zurückzuführen, sondern Ausdruck einer höchst ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen seien, keine preiswürdige wissenschaftliche Erkenntnis darstelle; jeder Bettler wisse das. Der dritte Teil der Diskussion sagt etwas über die Befindlichkeit vieler Wirtschaftswissenschaftler aus: Zur Quintessenz der Sen'schen Erkenntnis, daß es zu Hungersnöten nur bei Abwesenheit von Demokratie kommen kann (jedenfalls konnte nicht beobachtet werden, daß es in Demokratien zu Hungersnöten kam, auch wenn Mangel an Nahrungsmitteln herrschte), kann nur kommen, wer die institutionellen Rahmenbedingungen in die ökonomische Analyse einzubeziehen bereit ist.

Die Entscheidung des* Nobel-Komitees und der Stolz der indischen Regierung und indischen Öffentlichkeit wurden ferner kritisiert, weil hier angeblich falsche, weil nicht-marktwirtschaftliche, Signale gesetzt würden. Professor Sen gibt sich die größte Mühe klarzumachen, daß er keineswegs Gegner einer Marktwirtschaft und ein Befürworter einer weiteren Liberalisierung der indischen Wirtschaft sei; auf bestimmten Gebieten, namentlich der Erziehung, sei aber ein Engagement des Staates unverzichtbar; in Bezug auf Indien mahnt er hier Handlungsbedarf an.(6) Aber auch wenn die Verantwortung des Staates für die Sicherstellung der Ernährung seiner Bürger anerkannt wird, stellen sich Fragen nach dem zu gewährleistenden Versorgungsniveau und den einzusetzenden Mitteln.

Die erste Frage beinhaltet eine beträchtliche dynamische Dimension wegen der steigenden Bevölkerungszahlen und des deshalb zunehmenden Nahrungsbedarfs. Der Schrecken einer "Bevölkerungsexplosion" oder einer "Bevölkerungsbombe" wird noch immer häufig mit Indien assoziiert: ein Land, das nach China die größte Zahl von Einwohnern hat, aufgrund seiner höheren Bevölkerungswachstumsrate schon heute mehr neue Bürger begrüßt als jedes andere Land der Welt und bei anhaltenden Trends in wenigen Jahrzehnten China an Einwohnerzahl überholt haben und das bevölkerungsreichste Land sein wird.(7) Das bedeutet, daß Indien schon heute den größten Zuwachsbedarf an Nahrungsmitteln hat, und in wenigen Jahrzehnten auch den größten Nahrungsbedarf haben wird.(8) Für den indischen Staat bedeutet dies die immense Aufgabe, die Ernährung dieser wachsenden Bevölkerung, und zwar aller Bevölkerungsgruppen, sicherzustellen.

Die zweite Frage zielt darauf ab, ob die Versorgung unbedingt aus eigener Produktion erfolgen muß, oder ob Indiens Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO nicht auch ein Bekenntnis zum Prinzip der internationalen Arbeitsteilung, und damit auch die Möglichkeit von Getreideeinfuhren, beinhaltet.(9) Die Sicherung der Nahrungsversorgung einer wachsenden Bevölkerung ist nach wie vor ein Hauptziel der indischen Politik(10) und vorrangig durch eine Steigerung der eigenen Produktion zu erreichen, die noch immer von existentieller Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes ist. In Indien leben eine Milliarde Menschen, ein Sechstel der Menschheit und mehr als in Europa, Afrika oder Amerika. Der Getreidebedarf Indiens wird aus eigener Produktion (1997: 183 Mio. t)(11) gedeckt; zum Ausgleich der witterungsbedingten jährlichen Schwankungen der Erzeugung hat die Regierung große Lagerbestände angelegt und kann deshalb bei Mißernten auf Nahrungsimporte weitestgehend verzichten. Dies erscheint angesichts der Tatsache, daß der indische Getreidebedarf etwa dem Umfang des Welthandels mit Getreide entspricht (1998/99: 204 Mio. t)(12) verständlich, zumal in Indien vor allem Reis gegessen wird, international aber in erster Linie Weizen und Mais gehandelt werden;(13) entsprechend sind die internationalen Lagerbeständen (1998/99: 328 Mio. t)(14) zusammengesetzt. Wie leistungsfähig die Weltmärkte in Krisenjahren sein werden, läßt sich nicht voraussagen. Angesichts der Gefahr, in einer solchen Situation auf engen Märkten hohe Preise bezahlen und/oder politische Kompromisse eingehen zu müssen, schreckt die indische Regierung; erfahrungsgemäß dauert es auch lange, bis entsprechende Nahrungsimporte veranlaßt und die dafür notwendigen finanziellen Mittel bereitgestellt werden können, ganz zu schweigen von den logistischen Problemen, die dadurch entstehen, daß die angelandeten Lieferungen in den schon jetzt überlasteten Häfen umzuschlagen und im Lande zu verteilen sind. So gesehen ist die indische Weigerung, den Empfehlungen der Weltbank zu folgen und auf eine staatliche Lagerhaltung größten Umfangs, deren (volkswirtschaftliche) Kosten auf eine halbe Milliarde US-Dollar jährlich veranschlagt werden,(15) zu verzichten, nachvollziehbar. Allerdings gibt es eine berechtigte Kritik am Umfang und der Organisation der Lagerhaltung, soweit diese mehr politische als wirtschaftliche Beweggründe erkennen läßt.(16)

Die Autarkiepolitik resultiert aus den Erfahrungen der sechziger Jahre: In den fünfziger Jahren war die Getreideproduktion - entgegen einer verbreiteten Ansicht - kontinuierlich um fast die Hälfte gestiegen, stagnierte dann einige Jahre und erreichte 1964-65 mit (netto) 67 Mio. t eine Rekordhöhe; in den nächsten beiden Jahren fiel die Produktion witterungsbedingt auf 55 Mio. t resp. 58 Mio. t und das Versorgungsniveau auf 360 g Getreide pro Kopf und Tag, den niedrigsten Wert seit 1952-53.(17) Bereits in den Jahren zuvor hatte Indien steigende Mengen von Nahrungsgetreide importiert, zumeist im Rahmen der Nahrungshilfe der USA unter den Vorzugsbedingungen des Gesetzes (Public Law) 480.(18) 1965-66 wurde die Rekordmenge von 10 Mio. t importiert, im Jahr darauf fast 9 Mio. t.(19) Gleichzeitig bemühte sich Indien um eine neutrale Position im Kalten Krieg, war aber seinerseits im Jahre 1965 in einen Krieg mit Pakistan verwickelt, das wiederum Alliierter der USA war und beste Beziehungen zu China unterhielt, mit dem Indien drei Jahre zuvor in einen Grenzkrieg verwickelt war. Die USA reagierten auf die Gefahr eines sich ausweitenden Krieges in Südasien (nicht weit entfernt tobte der Vietnam-Krieg) mit Sanktionen, um Indien und Pakistan zu einem Ende der Kriegshandlungen zu zwingen, und Ministerpräsidentin Indira Gandhi - seit dem Frieden von Taschkent im Amt - reagierte auf die absehbaren Zwänge einer food power mit dem Bestreben um self-reliance in der Nahrungsversorgung, eine Politik, die schon bald Wirkung zeigte: nur Mitte der siebziger Jahre kam es noch einmal zu größeren Getreideimporten, zu einer Zeit, als die internationalen Läger leer geräumt waren und die Preise Rekordhöhen erreichten.(20) Das hat die indischen Regierungen in ihrem Bestreben um Selbstversorgung nur bestärkt.
 

Ernährung sichergestellt?

Die Frage, ob die Bevölkerung Indiens aus eigener Kraft ernährt werden kann, ist grundsätzlich positiv zu beantworten. In den letzten Jahren standen fast durchweg mehr als 450 g Getreide pro Kopf und Tag, rund ein Drittel mehr als zu Beginn der fünfziger Jahre, zur Verfügung; allerdings werden nur noch halb soviel Hülsenfrüchte verzehrt (1998: 33 g). Insgesamt hat sich die Versorgung mit Cerealien und Hülsenfrüchten von unter 400 g pro Kopf und Tag auf in manchen Jahren schon mehr als 500 g verbessert.(21) Im Durchschnitt der Bevölkerung liegt die Kalorienversorgung mittlerweisen bei (1994-1996) 2.394 Kcal pro Kopf und Tag, Tendenz steigend. Die Versorgung mit Proteinen (58,2 g) und Fetten (43,2 g) ist stärker gestiegen, erreicht jedoch noch lange nicht die (zu) hohen Werte Deutschlands.(22) Noch größer ist der Abstand bei Nahrung tierischen Ursprungs, deren Verzehr nimmt besonders schnell zu (vgl. Tabelle 1). Da auf dem Wege der "Veredelung durch den Tiermagen" aber mehr Primärenergie für dieselbe Menge Nahrungsenergie eingesetzt werden muß als bei pflanzlichen Produkten, geht eine qualitativ bessere Versorgung einer kleinen Bevölkerungsgruppe zu Lasten der quantitativen Versorgung der anderen.

Beim Vergleich der Angaben der verschiedenen Quellen (FAO, indische Regierung) über die Produktionsentwicklung fallen Unterschiede auf, die systematische Gründe haben: Das Produkt der Reisernte ist der noch ungeschälte Reis oder paddy, er wird vor dem Verbrauch gemahlen(23) und verliert dabei ein Drittel seines Gewichts.(24) Bei einer Paddy-Produktion von mittlerweilen über 120 Mio. t macht das eine Differenz von über 40 Mio. t aus, mehr als die Weizenernte vor zwanzig Jahren. Hülsenfrüchte (pulses) zählen in Indien zum Nahrungsgetreide (foodgrains), nicht aber zu den Cerealien (cereals). Mit Grobgetreide (coarse grain) sind die Cerealien außer Weizen und Reis gemeint, nicht etwa Futtergetreide. Bei der Interpretation der Angaben über jüngste Ernten sind stets Vorbehalte angebracht, da sie häufig nur projizierte, geplante oder erwartete Werte sind; Angaben über die realisierte Produktion werden nicht selten nachträglich korrigiert. Im Übrigen gilt die Statistik als recht verläßlich und zeigt die folgenden Trends:

Die Produktion von Reis, Weizen und Mais hat in den vergangenen Jahren beträchtlich zugenommen, stagniert bei Hirse und Sorghum und ist bei Gerste rückläufig. Eine ähnliche Entwicklung ist auch beim Flächeneinsatz zu beobachten. Insgesamt werden aber seit einigen Jahren weniger Flächen unter Getreide angebaut: Im Zuge steigender Einkommen (zumindest eines Teils der Inder) hat die Nachfrage nach sog. höherwertigen Agrarprodukten zugenommen, was sich in einem höheren Flächenseinsatz für den Anbau von Ölfrüchten, Zuckerrohr und Baumwolle niederschlägt.

Die angesprochenen Flächenerträge konnten seit Anfang der sechziger Jahre bei Getreide mehr als verdoppelt, bei Weizen sogar verdreifacht, werden, wobei zu beachten ist, daß es sich nicht um identische Flächen handelt. Das Ergebnis von 1,8 t/ha(25) ist jedoch immer noch gering im internationalen Vergleich und erlaubt die Zuversicht, daß die Erträge auch weiterhin ganz erheblich gesteigert werden können, was allerdings beträchtlicher Anstrengungen bedarf.

Die beiden zentralen Thesen von Thomas Robert Malthus (1766-1834), dem Professor am Haileybury College der East India Company, daß sich die Bevölkerung in arithmetischer und die Nahrungsproduktion in geometrischer Reihe entwickeln würden,(26) sind in Indien empirisch nicht zu belegen. Das natürliche Bevölkerungswachstum geht immer mehr zurück: jüngste Untersuchungen(27) stützen die Erwartung der Modernisierungstheoretiker, daß uns die Entwicklungsländer auf dem Wege abnehmender Zuwachsraten folgen. Die Produktion ist in den letzten Jahrzehnten in beeindruckender Weise gestiegen, wohl auch stärker als in arithmetischer Reihe (Tabelle 2), aber weniger durch eine Ausweitung der Anbauflächen (Tabelle 3), als durch eine Anhebung der Flächenerträge (Tabelle 4, Abbildung 1). Das Ernährungsniveau ist deshalb heute besser als vor der Unabhängigkeit.

Das bedeutet nicht, daß nicht gehungert würde: die Hälfte aller (absolut) Armen der Welt lebt in Südasien; nach indischen Maßstäben leben 35 v.H. der Inder in Armut.(28) Ungeachtet aller Definitionen ist ihre Versorgung weniger eine Frage der Produktion als der Verteilung. Die derzeitige Produktion pro Kopf der Bevölkerung würde für eine allgemein hinreichende, wenn auch nicht üppige Ernährung ausreichen. Die relative Einkommensverteilung ist nicht schlechter als bei uns,(29) aber das Niveau der Einkommen ist so niedrig, daß es besonderer Verteilungsanstrengungen bedürfen würde, um alle Inder ausreichend zu ernähren.

Amartya Sen hat die Mechanismen untersucht, die zu Hungersnöten wie in Bengalen 1943 und Bangladesh 1974 führten. Er spricht von entitlement and deprivation, berechtigtem Anspruch und Beraubung: bei langanhaltender Dürre, Überschwemmungen und Krieg kann es zur Katastrophe kommen, wenn arme Gruppen plötzlich ihr Einkommen verlieren.(30) Eine Hungersnot muß nämlich nicht die gesamte Bevölkerung bedrohen; deshalb kommt es immer wieder zu den erschreckenden Bildern extremer sozialer Gegensätze. Hier ist der Staat gefordert - zuweilen auch das Ausland.
 

Ausblick

Wie sind die Aussichten für die Zukunft? Unter der Annahme weiter abnehmender Wachstumsraten (1998: 1,7 v.H.)(31), wird sich die Bevölkerungszahl auf hohem Niveau stabilisieren. Der Zenit des Bevölkerungswachstums dürfte seit langem überschritten sein. Da aber die nächste Generation bereits geboren und zahlreicher ist als die ihrer Eltern, wird die Bevölkerungszahl vorerst weiter ansteigen. Es besteht gute Hoffnung, daß die Produktion mit diesem Tempo mithalten kann. Dies wird nur durch eine Intensivierung des Anbaus zu erreichen sein, vorausgesetzt, daß die Inputs, d.h. Saatgut, Wasser, Dünger und Pflanzenschutz in entsprechendem Maße bereitgestellt werden können. Untersuchungen des International Food Policy Research Institute (IFPRI) in Washington, eines der international finanzierten Agrarforschungsinstitute, haben ergeben, daß Indien im Jahre 2020 wird 16 Mio. t Getreide exportieren können, wenn es gelingt, die bisherigen Produktivitätssteigerungen aufrechtzuerhalten; bei nachlassender Zunahme der Produktivität in der Landwirtschaft müßte jedoch Getreide im Umfang von 23 Mio. importiert werden.

Derartige Berechnungen sind besser als ihr Ruf: Vor einem Vierteljahrhundert haben Fred Sanderson und Shyamal Roy von der Brookings Institution in Washington eine Projektion vorgestellt,(32) die weitgehend real geworden ist: Sie erwarteten für das Jahre 2000 eine Bevölkerung von knapp einer Milliarde, exakt so viele, wie dann voraussichtlich leben werden.(33) Das Wirtschaftswachstum blieb etwas hinter den Erwartungen zurück, weshalb auch das Pro-Kopf-Einkommen nicht ganz so hoch ist; es konnte in diesem Vierteljahrhundert aber immerhin verdoppelt werden.(34) Die Produktionsfortschritte in der Landwirtschaft wurden bei weitgehend gleichem Flächeneinsatz (1993-94: 142 Mio. ha)(35) erreicht; die Ausweitung der Bewässerung (1993-94: 51 Mio. ha netto)(36) liegt aber ebenso wie die Steigerung der Anbauintensität (1993-94: 131 v.H.)(37) unter den Erwartungen. Auch die Getreideflächen (1996-97: 124,5 Mio. ha)(38) gingen weniger zurück als erwartet; die Erträge wurden aber kräftig gesteigert (1996-97: 1.601 kg/ha)(39), aber nicht ganz im erwarteten Ausmaß, weil sich die Hochertragssorten zwar schneller durchgesetzt haben, als erwartet, ihre Erträge aber hinter den Erwartungen zurückblieben. Der Düngemitteleinsatz (1997-98: 16,5 Mio. t)(40) hat überraschend rasch zugenommen, im Verhältnis zu Stickstoff ist der Einsatz von Phosphat und Kali aber zu gering. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Produktionssteigerung mit einem größeren Einsatz von Flächen, Hochertragssorten und vor allem Düngemitteln erreicht wurde.(41)

Die Produktionssteigerungen in den nächsten Jahren werden auf den selben Flächen stattfinden müssen, bei einem weiteren Auseinanderklaffen der Einkommen wird der Anbau von höherwertigen Nahrungsmitteln zu Lasten der Getreideflächen gehen, beim Einsatz von Saatgut, Bewässerung, Düngemitteln und Pflanzenschutz wird eine reine Mengensteigerung bei den Inputs nicht reichen; qualitative Verbesserungen werden vor allem dort möglich sein, wo das Bildungswesen gute Fortschritte gemacht hat. Daß Indien theoretisch eine wesentlich größere Bevölkerung ernähren könnte, mag die folgende Überschlagsrechnung zeigen: Zur Zeit betragen die Flächenerträge bei Getreide (1996-98) 18 dt/ha, ein Drittel des europäischen Durchschnitts (EU15: 55 dt/ha);(42) jede Steigerung um 1 dt/ha würde ausreichen, weitere 50 Millionen Menschen zu ernähren.(43)

Daß sich die landwirtschaftliche Produktion der letzten drei Jahrzehnte so gut entwickeln konnte und zumal die letzten zwanzig Jahre fast störungsfrei verlief, liegt vor allem an den günstigen Witterungsbedingungen. Die Dürre 1987 konnte gemeistert werden und auch die extreme Hitze des Jahres 1998. 1999 deuten die Frühindikatoren auf ein weiteres sehr heißes Jahr hin. Das wäre nicht ungewöhnlich, denn schlechte (und gute) Erntejahre treten immer wieder in Serie auf; zuletzt, wie geschildert, Mitte der sechziger Jahre. Die These steigender Innovationsbereitschaft in Zeiten wirtschaftlicher Krisen findet im Falle Indiens eine Bestätigung: Angesichts dieses Produktionseinbruchs war die indische Regierung bereit, neues Hochleistungssaatgut ins Land zu lassen, das von den Bauern bereitwillig eingesetzt wurde. Die zu beobachtenden Produktionssteigerungen, vor allem bei Weizen, wären nach einem Normaljahr kaum aufgefallen, so aber waren sie spektakulär.

Wegen des revolutionären Erfolges kam das Wort von der "Grünen Revolution" auf - im Gegensatz zur "roten" Revolution, einer Revolution nach Vorbild der kommunistischen Staaten, wie sie in der Sowjetunion, in Osteuropa und in China stattgefunden hatte. Die "Grüne Revolution" fand vor allem im technischen Bereich statt: die neuen (Hybrid-)Sorten des "Wunderweizen" hatten einen wesentlich kürzeren Halm und eine geringere Biomasse pro Pflanze, der Körnerertrag war größer. Wegen der kürzeren Halmlänge waren diese Sorten aber stärker von Unkraut bedroht und erforderten einen höheren Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln; zudem stellten sie höhere Anforderungen an eine geregelte Wasserzufuhr, d.h. an ein ausgebautes Netz für die künstliche Bewässerung, entweder aus Kanälen oder aus dem Grundwasser. Das bedeutete einen hohen Kapitalbedarf für Investitionen auf der Seite des Staates (Kanäle, Energieversorgung) und der Landwirte (Rohrbrunnen) sowie für den Zukauf von Produktionsmitteln wie Hochertragssaatgut, Mineraldünger und Pflanzenschutzmittel. Außerdem stehen die Hochertragssorten zum Teil kürzere Zeit auf dem Acker als traditionelle Sorten: der Übergang zu einer zweiten oder dritten Frucht (Mehrfachernte) wird möglich. Bei der "roten Revolution" steht dagegen die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, vor allem des Faktors Boden, im Mittelpunkt; nur die Landreformen in Westbengalen und Kerala gelten als erfolgreich.

Zurück zur "Grünen Revolution": Prinzipiell galt diese neue Technologie des biologisch-technischen Fortschritts als betriebsgrößenneutral (keine economies of scale): im Gegensatz zum vorherigen mechanisch-technischen Fortschritt mit seinen beim Ankauf von Ackerschleppern und Erntemaschinen verbundenen hohen Sprungkosten war sie auch von kleinen Betrieben anzuwenden. In der Praxis haben die Inhaber und Pächter kleiner und kleinster Betriebe aber nicht das notwendige Wissen, nicht den (häufig reglementierten/rationierten) Zugang zu den Betriebsmitteln (Düngemittel, Pflanzenschutz, Wasser) und weder die erforderlichen, geringen, finanziellen Mittel, noch die Kreditwürdigkeit, um das Geld von den Banken zu leihen. Kleinlandwirte haben meist auch weniger Schulbildung: sie können weder Betriebsanleitungen lesen noch Antragsformulare ausfüllen. Die höheren Einkommen aus der Landwirtschaft veranlaßten manchen absentee landlord, sich selbst um seinen Betrieb zu kümmern und sich arbeitssparende Maschinen zu kaufen; Pächter und Landarbeiter wurden vertrieben bzw. entlassen. Vor allem wegen dieser sozialen Folgen geriet die "Grüne Revolution" in Mißkredit. Die häufig zitierten ökologischen Schäden haben zum Teil nur mittelbar mit der "Grünen Revolution" zu tun: Einengung des Sortenspektrums, Bodenversalzung und -vernässung durch unsachgemäße Bewässerung.

In der Frage der Produktivität entbrannte ein Streit um die folgende Frage, die bis heute nicht entschieden ist: nimmt die Flächenproduktivität, d.h. die produzierte Menge pro Flächeneinheit (kg/ha), mit steigender Betriebsgröße zu oder ab? In der Industrie geht man von economies of scale, sinkenden Durchschnittskosten, aus: je größer die Ausbringungszahl, desto niedriger die Produktionskosten pro Stück; nach dieser Logik wäre die Landwirtschaft am besten in Form von wenigen Großbetrieben organisiert. Die Gegenposition basiert darauf, daß in den Ländern Südasiens versteckte Arbeitslosigkeit herrscht: Wenn Arbeit Boden substituieren kann, dann würde die höchste Agrarproduktion erreicht, wenn es möglichst viele (kleine) Betriebe gäbe. Zugleich wäre auch das Problem der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen gelöst; die Notwendigkeit einer sekundären Einkommensverteilung entfiele. Die Anhänger dieser Auffassung treten deshalb für eine Umverteilung des Bodenbesitzes (Landreform) ein.

Unter der Annahme einer Dichotomie zwischen wirtschaftlichem Wachstum der Produktion (optimaler Allokation der Ressourcen) und gleichmäßiger Verteilung der Einkommen (Distribution) wurde lange eine fruchtlose und ideologisch belastete Diskussion über wirtschaftspolitische Prioritäten geführt. Empirische Untersuchungen lassen den Schluß zu, daß sich die höchste Flächenproduktivität weder bei den großen, noch bei den kleinen, sondern bei Betrieben mittlerer Größe findet (dies ist zuweilen auch in der Industrie so): die kleinen und kleinsten Betriebe können nämlich - vor allem aus den bereits genannten institutionellen Gründen - ihre ungenutzte Arbeitskraft nicht optimal einsetzen, und Großgrundbesitzer verfolgen u.U. andere Ziele als ein möglichst hohes Einkommen; eine weniger arbeitsintensive Produktionsweise macht sie auch weniger von ihren Pächtern und Landarbeitern abhängig.

Fragen der Nahrungsversorgung sind in Agrarländern von hoher allgemeiner wirtschaftlicher Bedeutung. Vom Agrarsektor werden auch mehr "Beiträge" erwartet als die Erzeugung von Nahrungsmitteln (Produktionsbeitrag nach Kuznets):(44) Diese erstreckt sich auch auf die landwirtschaftlichen Rohstoffe (Textilfasern, Häute und Felle) für die Weiterverarbeitung in anderen Wirtschaftsbereichen; in der Analyse unberücksichtigt bleibt meist der überdimensionierte tertiäre oder Dienstleistungssektor, in dem rund die Hälfte des Sozialprodukts erwirtschaftet wird und in dem rund ein Drittel aller Beschäftigten arbeiten.

Der Agrarsektor stellt auch einen wichtigen Absatzmarkt (Marktbeitrag) für industriell gefertigte Güter (und Dienstleistungen) dar, wie Marktuntersuchungen immer wieder zeigen (als Beispiele im Konsumbereich werden Seife und Waschmittel, aber auch Ventilatoren und Kühlschränke genannt).

Ferner stellt der Agrarsektor Kapital und Arbeit zur Verfügung (Faktorbeitrag). Das Ausmaß des Kapitaltransfers aus der Landwirtschaft ist ungewiß: der dualistic landlord, der seine Gewinne wie einst in Japan in der Industrie investiert, dürfte in Indien selten sein, die (direkte) Besteuerung der Landwirtschaft ist ebenfalls gering. Die (meist staatlichen) Banken auf dem Lande arbeiten vor allem als Kapitalsammelstellen für den Hauptkreditnehmer, den Staat. Zugleich gibt es einen Kapitalstrom in Gegenrichtung: Familienmitglieder, die in der Stadt oder im Ausland arbeiten, schicken Geld an ihre Verwandten auf dem Land. Der Beitrag zu den Staatsfinanzen ist gering: die Grundsteuer, einst die wichtigste Staatseinnahme, wurde als Ausdruck des verhaßten Kolonialstaates bis zur Bedeutungslosigkeit abgebaut, die Wassergebühren tragen kaum ihre Erhebungskosten, Kredite, Düngemittel sind hochsubventioniert, Elektrizität wird zum Teil gratis an die Landwirte abgegeben; von den direkten Steuern (z.B. auf Einkommens- und Vermögen) sind die Landwirte fast völlig befreit, es bleiben geringe Einnahmen aus der Umsatzsteuer (sales tax) und die Ein- und Ausfuhrzölle, soweit sie die Landwirtschaft betreffen. Dem halten die Landwirte entgegen, daß sie durchaus besteuert werden, weil die Erzeugerpreise durch niedrige staatliche Ankaufspreise,(45) Behinderung und Belastung des Binnen- und mehr noch des Außenhandels zum Teil unter den Weltmarktpreisen gehalten werden.(46) Solange die indische Rupie nicht frei konvertibel ist, sind die Auswirkungen auf die Zahlungsbilanz besonders zu beachten. Der Ausfuhr von landwirtschaftlichen Produkten im Werte von mehreren Mrd. DM im Jahr stehen nämlich ebenso hohe Importe von Agrarprodukten gegenüber: Indien kann sich zwar in den meisten Jahren mit Nahrungsgetreide selbst versorgen und exportiert vor allem Tee und Gewürze, ist aber auf die Einfuhr von Nahrungsfetten angewiesen, die Bilanz ist etwa ausgeglichen. Erst wenn man die Exporte von Verarbeitungserzeugnissen landwirtschaftlicher Rohprodukte einbezieht, leistet die Landwirtschaft einen größeren Beitrag zur Zahlungsbilanz, auch wenn man die Importkosten für landwirtschaftliche Inputs abzieht.

Was die Arbeit angeht: Der größte Bevölkerungszuwachs wird immer noch auf dem Lande verzeichnet, zum einen, weil dort drei Viertel der Bevölkerung wohnen und zum anderen, weil die Geburtenraten auf dem Lande höher sind als in der Stadt. Unklar ist, inwieweit die Landflucht zu Lasten der Nahrungsproduktion geht.(47) Der erhoffte Effekt stellt sich auch nicht als Funktion der Zahl der Abwandernden ein: Die Qualität der Arbeit (Ausbildung) ist wichtig; aus der Landwirtschaft scheiden vor allem die Landarbeiter und Kleinbauern ohne berufliche Qualifikation aus.

Ökologische Aspekte wären als eigene Kategorie (Faktor Boden) zu berücksichtigen, ließen sich aber auch unter Kapital (Naturkapital) subsumieren. Der Verbrauch von Boden für nicht-landwirtschaftliche Zwecke ist vor allem durch die Anlage von Stauseen für die Bewässerung und die Elektrizitätserzeugung, die nur zum kleineren Teil der Landwirtschaft (direkt) dient, gegeben. Hier sind zuweilen mehrere zehntausend Menschen umzusiedeln, die ökologischen Schäden sind beträchtlich. Der Beitrag der Landwirtschaft zur Erhaltung der natürlichen Umwelt ist nicht immer positiv: das Vordringen der Landwirtschaft in abgeholzte Waldgebiete, Überweidung und Monokulturen, Überdüngung und vor allem der Einsatz von biologisch nicht abbaubaren Pflanzenschutzmitteln wirken sich nachteilig aus; die Anlage und Pflege von Terrassen kann aber z.B. der Erosion entgegenwirken.

Gegen den Vorwurf eines suboptimalen Beitrages der Landwirtschaft zum wirtschaftlichen Wachstum könnten die indischen Landwirte argumentieren, daß der Staat einen starken urban bias hat; Entwicklungsgelder fließen vor allem in den städtisch/industriellen Sektor und in den überbordenden Dienstleistungsbereich. Es stellt sich ohnehin die Frage nach dem ganzen Ansatz: die Idee eines Beitrags des Agrarsektors zur Entwicklung der Wirtschaft geht implizit davon aus, daß die "eigentliche" Entwicklung außerhalb des Agrarsektors stattfindet. Indiens forcierter Aufbau der Schwerindustrie seit dem zweiten Fünfjahresplan (1956-61) ist Ausdruck dieser Haltung. Demgegenüber steht die Idee, daß die Entwicklung der Landwirtschaft selbst bereits der wichtigste Beitrag zur Entwicklung der Gesamtwirtschaft ist. Schließlich ist die Nahrungsproduktion noch immer die wichtigste wirtschaftliche Aktivität in Indien, und hier ist, wie ausgeführt, beachtliche Dynamik zu beobachten. Die erste "Grüne Revolution" fand bei Weizen im Nordwesten des Subkontinentes (Punjab, Haryana, westliches UP) statt: der Körnerertrag stieg in Indien von 6,6 dt/ha im Jahre 1950/51 auf 16,3 dt 1980/81 und 25,1 dt/ha 1996/97. Während der zweiten "Grünen Revolution" konnten die Produktivitätsfortschritte auf das östliche Gangestal (östliches UP, Bihar, Westbengalen) und auf Reis mit Steigerungen von 6,7 dt/ha auf 13,4 dt/ha und 18,8 dt/ha ausgedehnt werden.(48) Da zugleich die Anbauflächen ausgeweitet wurden, konnte die Getreideproduktion seit der Unabhängigkeit in Indien vervierfacht werden.(49)

Ob dies auch ohne die Einführung von Hochertragssorten und komplementären modernen Produktionsfaktoren möglich gewesen wäre, mag bezweifelt werden. Ein leistungsfähiges Transportnetz, gefüllte Vorratsläger und das seit dem Zweiten Weltkrieg bestehende Verteilungssystem (public distribution system) waren die Voraussetzungen dafür, daß 1987 trotz einer verheerenden Dürre in weiten Teilen Indiens eine Hungersnot abgewendet werden konnte.

Das wäre bei einem Festhalten an der oft romantisch verklärten Subsistenzwirtschaft, bei der die Großfamilie, der Clan, der Stamm oder das Dorf, sich aus eigener Produktion ernähren, nicht möglich. Inwieweit es eine Subsistenzproduktion im strengen Sinne in der Vergangenheit gegeben hat, ist umstritten; die gängige Definition geht deshalb nur von einem Eigenanteil von 50 v.H. aus.(50) Zu bedenken ist auch, daß das indische Dorf hochgradig arbeitsteilig ist: so gibt es etwa - anders als bei uns - landlose Tierhalter, die ihr Vieh am Wegesrand, auf abgeernteten Feldern, auf Gemeindewiesen und im Gemeindewald weiden lassen - ein bei steigendem Viehbestand ökologisch problematischer Brauch, weil er zur Übernutzung der Almende (common green) führt, wenn traditionelle Beschränkungen nicht mehr greifen. Weitere wichtige Faktoren der Entwicklung des Agrarsektors sind institutioneller Art, wie das Bodenrecht,(51) die Erbsitten und die Heiratssysteme.

Abschließend noch ein Wort zum Versuch, das Verteilungsproblem durch Zwangsbewirtschaftung zu lösen: Der Vorwurf gegen das System der öffentlichen Versorgung mit seinen Ablieferungspflichten, Handelsbeschränkungen und Lebensmittelmarken, daß es die Zielgruppen nicht erreicht, teuer ist und die Landwirte benachteiligt, läßt sich nämlich leicht belegen: Die Ärmsten der Armen, vor allem auf dem Lande werden nicht oder kaum erreicht, das Instrument dient der Befriedung der städtischen Mittel- und Unterschicht, das Geld fehlt bei der Finanzierung anderer staatlicher Aufgaben. Gezielte Maßnahmen, wie etwa die Schulspeisungen und einkommensschaffende Maßnahmen, bieten sich als Alternativen an. Im Nachbarland Pakistan hat man die Rationierung von Lebensmitteln in den achtziger Jahren eingestellt, ohne daß es zu den befürchteten Preissteigerungen kam.
 

Tabelle 1: Ernährungssituation pro Kopf und Tag.
 
Jahre 
Kalorien (Kcal)
Proteine (g)
Fette (g)
Insges. tier.
Ursprungs
Insges. tier.
Ursprungs
Insges. tier.
Ursprungs
1961-63 1.997 103 50,6 5,1 31,0 7,0
1969-71 2.032 95 50,2 4,9 30,4 6,4
1979-81 2.117 106 50,8 5,6 33,8 7,1
1988-90 2.229 154 55,4 8,3 37,8 10,3
1994-96 2.394 173 58,2 9.5 43,2 11,4
Zum Vergleich:
Deutschland
1994-96  3.296 1.056 94,3 58,0 141,4 62,7

Anmerkung: Dreijahresdurchschnitte.

Quelle: FAOSTAT, 15.4.1999.
 

Tabelle 2: Getreideproduktion (in 1000 t)
 
Jahr(e) Reis Weizen Gerste Mais Hirse Sorghum Insges.
1969-71 62.861 20.859 2.642 6.087 10.182 8.516 111.146
1979-81 74.557 34.550 2.020 6.486 9.189 11.380 138.182
1989-91 111.129 53.142 1.608 8.892 9.758 10.893 195.101
1996-98 123.162 65.965 1.549 9.733 10.667 9.833 220.909
Zum Vergleich:
Deutschland
1993 . 15.520 11.900 2.730 . . 36.222

Anmerkung: Cerealien schließen Weizen, Reis (paddy), Gerste, Mais, Roggen, Hafer, Hirse (millet), Sorghum und "sonstige" ein.

Quelle: 1969-1971: FAO production yearbook 33.1979. pp. 93-108. - 1979-1981: dito, 47.1993. pp. 65-85. - 1989-1998: FAOSTAT, 9.2.1999.
 

Tabelle 3: Getreideanbauflächen (in Mio. ha)
 
Jahr(e) Reis Weizen Gerste Mais Hirse Sorghum Insges.
1950-51 31,1 10,0 3,2 3,3 9,7 15,6 80,6
1960-61 34,1 12,9 3,1 4,4 11,5 18,4 91,9
1970-71 37,4 18,3 2,6 5,9 13,4 16,9 101,8
1980-81 40,2 22,2 1,8 6,0 11,7 16,4 104,9
1990-91 42,7 24,2 . 5,9 10,5 14,4 103,1
1997-98 43,4 26,7 . 6,3 9,7 11,0 101,2
Zum Vergleich:
Deutschland
1993 . 2,4 2,2 0,3 . . 6,2

Anmerkung: Getreide (cereals) schließen Weizen, Reis (paddy), Gerste, Mais, Roggen, Hafer, Hirse (millet), Sorghum und "sonstige" ein.

Quelle: 1950-1981: Indian agriculture in brief. 26th edition. New Delhi: Government of India. 1995. pp 64-69. - 1990-1998: Economic survey 1998-99. p. S-17. - Deutschland 1993 FAO production yearbook 47. 1993, pp. 65-85.
 

Tabelle 4: Flächenerträge bei Getreide, kg/ha
 
Land/Jahr(e) Reis Weizen Gerste Mais Hirse Sorghum Insges.
1961-63 1.496 844 877 982 427 490 948
1969-71 1.688 1.228 984 1.049 518 483 1.108
1979-81 1.858 1.545 1.119 1.100 514 695 1.324
1989-91 2.619 2.216 1.596 1.509 645 779 1.911
1996-98 2.892 2.574 1.907 1.591 794 863 2.210
Zum Vergleich:
Deutschland
1993 . 6.466 5.374 8.273 . . 5.800

Anmerkung: "Insgesamt" schließt Weizen, Reis (paddy), Gerste, Mais, Roggen, Hafer, Hirse (millet), Sorghum und "sonstige" ein.

Quelle: 1969-1971: FAO production yearbook 33.1979, pp. 93-108. - 1979-1981: dito 47.1993, pp. 65-85. - 1989-1998: FAOSTAT, 15.4.1999.
 

Abbildung 1: Entwicklung der Flächenerträge bei Reis und Weizen in Indien
 


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Anmerkungen:

1. Krishna C. S. Acharya: Food security system of India: evolution of the buffer stocking policy and its evaluation. New Delhi. 1983.

2. Die Famine Commission stellte im Jahr 1901 fest, daß es im Zeitraum von 1765 bis 1858 zwölf Hungersnöte und vier "schwerwiegende Knappheiten" gab. Nach: Leela Visaria, Pravin Visaria: Population (1757-1947). In: Dharma Kumar, Maghnad Desai (eds.): The Cambridge economic history of India. Vol 2: c. 1757 - c. 1970. New Delhi: Orient Longman. 1991 (Cambridge UP, 1982). pp. 477. - Vgl. auch: R. C. Majumdar, H. C. Raychaudhri, Kalikindar Datta: An advanced history of India. 4th ed. Madras: Macmillan India. 1994 (1946). pp.860-862. - Vincent A. Smith: The Oxford history of India, edited by Percival Spear. 4th ed. Delhi: Oxford UP. 1994 (1919). p. 728 und passim.

3. Wolfgang-Peter Zingel: Infrastruktur: Transport und Verkehr. In: Dietmar Rothermund (Hrsg.): Indien: Geschichte, Politik, Wirtschaft, Umwelt. Ein Handbuch. München: C. H. Beck. 1995. pp. 550-571.

4. Henry Knight: Food administration in India, 1939-1947. Stanford: Stanford University Press. 1954.

5. Edward Luce: Economist capable of amazing grace. In: Financial Times. Nov 28, 1998.

6. So z.B. in: Jean Drèze, Amartya Sen: India: economic development and social opportunity, London: Clarendon. 1995.

7. Bis sich ein Null-Wachstum der Bevölkerung ("hypothetical stationary population") eingestellt haben wird, werden Indien 1.888 Mio. und China 1.680 Mio. Einwohner haben. World development report 1994. p. 210.

8. Bei Annahme hoher Bevölkerungs- und Sozialproduktswachstumsraten wird Indien im Jahre 2020 eine Getreidebedarf von 235 Mio. t und China von 220 Mio. t haben. Kirit S. Parikh, Mahendra Dev: Asia. In: Nurul Islam (ed.): Population and food in the early twenty-first century: meeting future food demand of an increasing population. Washington, D.C.: International Food Policy Research Institute. 1995. pp. 117-120.

9. Allerdings: "In the WTO we will assert more robustly India's national interests." Agenda for Governance (BJP and Alliance Partners). The Economic Times. Delhi. 1998. www.economictimes.com/today/agenda.htm.

10. "We will ensure food security for all, create a hunger-free India in the next five years, and improve the public distribution system so as to serve the poorest of the poor in rural and urban areas. We will also ensure price stability by all appropriate means and necessary legislation." Agenda for Governance (BJP and Alliance Partners). The Economic Times. Delhi. 1998. www.economictimes.com/today/agenda.htm.

11. FAOSTAT, 2.2.1999 - Nach Abzug für das Schälen von Paddy.

12. FAO-aktuell. Bonn. 11/99. p. 2. - Bei Reis dürfte hier der geschälte berücksichtigt worden sein.

13. 1997 wurde erstmals seit über zehn Jahren die Einfuhr von Reis gestattet. Kunal Bose: India eases on rice imports. In: Financial Times. June 5, 1997. p. 28.

14. Ebenda.

15. How to sit on a useless pile. In: The Economist. June 3, 1995. p. 61.77

16. Pradeep K. Sharma: Foodgrain economy of India: government intervention in rice and wheat markets. Delhi: Shipra. 1997.

17. Economic survey 1998-99. p. S-24. Die Nettoproduktion versteht sich nach Abzug von 12,5 v.H. für Saatgut, Futtermittel und Abfall.

18. Joachim von Plocki: Auswirkungen der Nahrungsmittelhilfe unter P.L. 480 auf den Agrarsektor der Entwicklungsländer. Dargestellt am Beispiel Indiens. Beiträge zur Südasienforschung, Band 53. Wiesbaden: Franz Steiner. 1979.

19. Ebenda, p. S-25.

20. Fred H. Sanderson: The Great food fumble. The causes of the food crisis and some policy issues that it raises are discussed. In: Science. 188(9.5.1975)4188, pp. 503-509.

21. Economic Survey 1998-99. New Delhi: Government of India. 1998. p. S-27.

22. FAOSTAT, 14.4.1999.

23. Handbook of agriculture (facts and figures for farmers, students and all interested in farming). New Delhi: Indian Council of Agricultural Research. Revised (4.) ed. 1992 (1961). p. 774.

24. Indian agriculture in brief. 26 th edition. New Delhi: Government of India. 1998. p. 426. - Mit rice wird meist der geschälte Reis bezeichnet.

25. Nach Abzug für geschälten Reis.

26. Thomas Robert Malthus: An essay on the principles of population and a summary view of the principle of population. Edited with an introduction by Anthony Flew. Penguin English Library. 1982 (1798, 1830).

27. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse findet sich bei: Bryant Robey, Shea O. Rutstein und Leo Morris: Familienplanung in Entwicklungsländern. In: Spektrum der Wissenschaft. Februar 1994. pp. 32-39.

28. Weltbankangaben über den Teil der Bevölkerung, der unterhalb der nationalen Armutsgrenze lebt. India at a glance. Aug 27, 1998.

29. Die Gini-Koeffizienten liegen jeweils um 0,3. Vgl. World development reports 1995, pp. 220-221; dito 1987, pp. 222-223; dito 1998/99, pp. 198-199.

30. Amartya Sen: Poverty and famines: an essay on entitlement and deprivation. New Delhi: Oxford UP. 1994 (1982).

31. Statistical outline of India 1998-99. Mumbai: Tata Services. 1998. p. 45.

32. Fred H. Sanderson, Shyamal Roy: Food trends and prospects in India. Washington, D.C.: The Brookings Institution. 1979.

33. Für den 1. März 2000 werden 997 Mio. Einwohner erwartet. Statistical outline of India 1998-99. p. 43.

34. Bei anhaltenden Wachstumsraten. Economic survey 1998-99, p. S-3.

35. Statistical outline of India 1998-99. p. 63.

36. Statistical outline of India 1998-99. p. 63.

37. D.h. das Verhältnis der (Brutto-)erntefläche zur Nettoanbaufläche. Statistical outline of India 1998-99. p. 63.

38. Einschließlich Hülsenfrüchte. Statistical outline of India 1998-99. p. 58.

39. Einschließlich Hülsenfrüchte. Statistical outline of India 1998-99. p. 60.

40. Jeweils Nährstoff: 11,1 Mio. t Stickstoff, 4,0 Mio. t Phosphat, 1,4 Mio. t Kali. Statistical outline of India 1998-99. p. 63.

41. Vgl. dazu die pessimistische Projektion einer anderen Studie aus dieser Zeit, die für 1985 einen hohen Importbedarf vorhersagte: Sandra Hadler, Maw Cheng Yang: Developing country foodgrain projections for 1985. World Bank Staff Working Paper No. 247. Washington, D.C.: World Bank. 1976. p. 30 und p. 32. - Eine spätere Studie kommt zu weit günstigeren Ergebnissen: J. S. Sarma, Vasant P. Gandhi: Production and consumption of foodgrains in India: implications of accelerated economic growth and poverty alleviation. Research report 81. Washington, D.C.: International Food Policy Research Institute. 1990.

42. Rice milled equivalent. FAOSTAT, 30.4.1999.

43. Bei einer Getreidefläche von 100 Mio. ha und einem Getreidebedarf von 200 kg pro Kopf und Jahr.

44. Simon Kuznets: Economic growth and structure: selected essays. New Delhi: Oxford & IBH. 1965. pp. 236-256. - Winfried von Urff: Die Rolle der Landwirtschaft in der wirtschaftlichen Entwicklung. In: Peter von Blanckenburg und Hans-Diedrich Cremer (Hrsg.): Handbuch der Landwirtschaft und Ernährung in den Entwicklungsländern. 2. Auflage in 5 Bänden, Stuttgart: Eugen Ulmer. Band 1: Sozialökonomie der ländlichen Entwicklung, hrsg. von Peter von Blanckenburg. 1982. pp. 19-37.

45. Zur Wirkung der Preisstabilisierung: Nurul Islam, Saji Thomas: Foodgrain price stabilization in developing countries. Issues and experiences in Asia. Food policy review 3. Washington, D.C.: International Food Policy Research Institute. 1996.

46. Die Effekte einer Liberalisierung des Agrarhandels hängen von der Regulierung der übrigen Wirtschaft ab, namentlich des Steuerwesens. Shankar Subramanian: Agricultural trade liberalisation in India. Paris: OECD. 1993.

47. Ökonomen sprechen hier von einer Grenzproduktivität der Arbeit von Null. W. Arthur Lewis: Economic development with unlimited supplies of labour. In: A. N. Agrawala, S. P. Singh: The economics of underdevelopment. Oxford: Penguin. 1958. pp. 400-449. - Inwieweit sie in der Landwirtschaft der Entwicklungsländer anzutreffen ist, ist Gegenstand einer alten Kontroverse.

48. Ratnakar Gedam: Statistical profile of India 1999. New Delhi: Deep & Deep. 1999. p. 115.

49. Ohne Hülsenfrüchte, von 50,8 Mio. t im Jahre 1950-51 auf 192,1 Mio. t im Jahre 1996-97. Ibid. p. 114.

50. Clifton R. Wharton, jr. (ed.): Subsistence agriculture and economic development. Chicago: Aldine. 1969.

51. Wolfgang-Peter Zingel: Bodenrecht in Indien. In: Entwicklung und ländlicher Raum. Frankfurt: DLG. 29(1995)6. pp. 7-10.



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