Wolfgang-Peter Zingel
Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik

Pakistan: Militärherrschaft ohne Ende?
In: Joachim Betz, Stefan Brüne (Hrsg.): Jahrbuch Dritte Welt 2001: Daten, Übersichten, Analysen. Becksche Reihe 1384. München: C. H. Beck. 2001. pp. 116-130.
 

Am 12. Oktober 1999 hat das Militär in Pakistan zum vierten Mal die Regierung übernommen; fast die Hälfte der Zeit seit Bestehen des Landes herrschte die Armee. Nimmt man die Jahre, in denen die Armee die Fäden im Hintergrund zog, hinzu, so ist es fast ein Vierteljahrhundert her, daß eine Zivilregierung ihre Politik allein bestimmen konnte. Dabei ging es auch nicht immer sehr demokratisch zu, so daß man dem Land allenfalls eine lückenhafte demokratische Vergangenheit bescheinigen kann. Nach der Unabhängigkeit (14. August 1947) diskutierten die noch zu britisch-indischer Zeit gewählten Abgeordneten eine Verfassung, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, bis der General-Gouverneur diese verfassungsgebende Versammlung auflöste und eine neue Versammlung einberief, deren Entwurf 1956 angenommen, aber schon bald außer Kraft gesetzt wurde. Der Diktator General Ayub Khan (1958-1969) verordnete dem Land 1962 die zweite Verfassung; der Versuch einer gelenkten Demokratie schlug fehl, das Land geriet unter seinem Nachfolger, General Yahya Khan (1969-1971), erneut unter Kriegsrecht. Dieser veranstaltete zwar 1970 die ersten demokratischen Wahlen im Lande, ohne aber das Ergebnis zu akzeptieren. Die Folge war der Bürgerkrieg in Ostpakistan, das für weitestgehende Autonomie dieses Landesteils votiert hatte, in den schließlich Indien eingriff und der zur Teilung des Landes führte. Zulfikar Ali Bhutto (1971-1977), der populistische und zunehmend repressive Wahlsieger im westlichen Landesteil, übernahm die Herrschaft in Restpakistan und verlor sie 1977, als ihn das Militär unter General Zia ul-Haq (1977-1988) nach dem Vorwurf massiver Wahlfälschung in der ersten Wahl des Reststaates stürzte. Unter dem Druck der Opposition lockerte der Diktator schrittweise die Militärherrschaft, änderte die (dritte) Verfassung Bhuttos von 1973 und machte sich zum Präsidenten. Diese weitgehenden Vollmachten erlaubten es den Präsidenten in der Nachfolge Zias, die nach seinem Tode gewählten Regierungen Benazir Bhuttos (1988-1990, 1993-1996) und Nawaz Sharifs (1990-1993, 1997-1999) aus dem Amt zu jagen; erst als sich die beiden erbitterten Kontrahenten zusammenschlossen, hatten sie die erforderliche Mehrheit, um diesen Verfassungszusatz zu entschärfen. Nun lag die Macht beim Premierminister, der sie so weidlich ausnutzte, bis er von General Pervez Musharraf (seit 1999) in einem auch dieses Mal unblutigen Militärputsch gestoppt wurde.
 

Das Interesse des Auslands

Das Interesse des Auslands an der Entwicklung der politischen Ordnung Pakistans war stets weniger grundsätzlicher Natur als von der Sorge über die zunehmenden Spannungen in der Region bestimmt. Zu Zeiten des kalten Krieges war Pakistan anfangs ein verläßlicher Bündnispartner (Baghdad-Pakt, CENTO, SEATO) im Ring der Allianzen, die der Westen zur Eindämmung (containment) der "Roten Flut" in Asien eingegangen war, zumal sich Afghanistan, Indien und Birma dem hartnäckigen Werben um Beitritt zu diesem Bündnissystem verschlossen und im Süden Asiens eine Lücke klaffte. Schon bald stellte sich heraus, daß das Interesse Pakistans an diesen Bündnissen allein seiner Angst vor seinen beiden Nachbarn Indien und Afghanistan entsprang, von denen es sich existentiell bedroht sah; dazu kam der Dauerstreit um Kaschmir. Der Westen dachte dagegen gar nicht daran, sich in die militärischen Auseinandersetzungen Pakistans und Indiens (1947-49, 1965, 1971, 1999) hineinziehen zu lassen; die guten Beziehungen fingen an, sich zu verschlechtern, obwohl ein dem Westen wohlgesonnener Diktator, der General Ayub Khan, 1958 die Macht übernahm. Der rasante wirtschaftliche Aufstieg in der Periode des Zweiten Fünfjahresplanes (1960-65) fand ein abruptes Ende, als Ayub Khan versuchte, die (vermeintliche) Führungsschwäche Indiens nach dem Tode Pandit Nehrus zu nutzen und den Kaschmir-Konflikt militärisch zu lösen. Weder die USA noch die befreundeten muslimischen Staaten waren gewillt, sich in diesen Konflikt hineinziehen zu lassen; ganz im Gegenteil: die USA übten erfolgreich Druck aus, um die Kontrahenten an den Verhandlungstisch zu zwingen. Dies fiel ihnen umso leichter, als Südasien Mitte der sechziger Jahre von einer verheerenden Dürre heimgesucht wurde; Hungersnöte in Pakistan und Indien konnten nur durch massive amerikanische Nahrungsmittelhilfe vermieden werden. Zulfikar Ali Bhutto, bis dahin pakistanischer Außenminister, stemmte sich von Anfang an gegen das Abkommen mit Indien (Taschkent 1966); mit der von ihm (mit)gegründeten Pakistan Peoples Party (PPP) gewann er die Wahlen von 1970 in der Westprovinz, dem heutigen Staat Pakistan. Als Präsident und später als Ministerpräsident wußte er den Ansehensverlust der Armee zu nutzen; sein Anspruch auf die Verwirklichung eines "Islamischen Sozialismus" ließ sich aber nicht in die Praxis umsetzen: die Kosten des militärischen Abenteuers, der Verlust der Devisenquelle Ostpakistan, die Lähmung der Wirtschaft nach seinen großangelegten Verstaatlichungsmaßnahmen und seine nur rhetorischen Islamisierungsbekundungen verprellten seine einstige Anhängerschaft und schufen ihm zunehmend Feinde. Als er endlich 1977 die ersten Wahlen im Reststaat abhielt, provozierte der Vorwurf massiver Wahlfälschung bürgerkriegsähnliche Unruhen, die das Militär unter General Zia ul-Haq mit einem Coup d'Etat am 5. Juli 1977 beendete. Die Beziehungen zum einstmaligen Bündnispartner USA waren zu diesem Zeitpunkt bereits gestört; sie verschlechterten sich weiter, als Zia seinen Vorgänger in einem als Farce eingestuften Prozeß wegen Mordes verurteilen und gegen weltweiten Protest auch befreundeter Regierungen am 4. April 1979 hinrichten ließ. Im Herbst desselben Jahres fiel Pakistan wegen der Verfolgung seiner Atomwaffenpläne unter die Beschränkungen des Symington Amendments zum amerikanischen Außenwirtschaftsgesetz, im November schließlich brannten mehrere Tausend Schüler und Studenten den Komplex der amerikanischen Botschaft in Islamabad, in Sichtweite des Präsidentenpalastes, nieder, ohne daß die Polizei oder das Militär einschritten.

Dramatische Änderungen in der internationalen Konstellation befreiten Pakistan aus der Isolation, verhalfen dem Land wieder zu der lange entbehrten Militär- und Wirtschaftshilfe und stabilisierten die Militärregierung. Zu Beginn des Jahres 1979 war die Regierung des benachbarten Iran gestürzt und der Shah aus dem Land vertrieben worden; muslimische Gelehrte übernahmen die Macht unter Führung des Ayatollah Khomeini, wenig später besetzten Fanatiker die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen die amerikanischen Diplomaten als Geiseln für die nächsten eineinhalb Jahre. Damit fiel der Iran als regionale Ordnungsmacht für die USA aus, der Versorgung der "Freien Welt" mit Erdöl aus den Staaten rund um den Persischen Golf schien aufs höchste gefährdet, zumal sich die in der OPEC zusammengeschlossenen ölexportierenden Staaten zum zweiten Mal auf eine Begrenzung der Fördermengen geeinigt hatten. Wieder mit Erfolg: nach der Vervierfachung der Rohölpreise in der ersten Runde (1973) stiegen sie jetzt um das Doppelte auf bis dahin (und seither) nicht erreichte Höhen.

Im Nachbarland Afghanistan scheiterte die Schaukelpolitik zwischen Ost und West: 1973 stürzte Ministerpräsident Daud seinen Vetter, den König, und lehnte sich immer mehr an den Ostblock an. 1978 wurde er durch radikale Kräfte gestürzt, die nach inneren Fehden Weihnachten 1979 die Sowjetunion ins Land riefen. Deren Invasion bedeutete endgültig das Ende der zaghaften Annäherung zwischen Ost und West, als deren deutlichster Ausdruck in Deutschland Willy Brandts Ostpolitik ("Wandel durch Annäherung") wahrgenommen worden war. Erneut sanken die Kältegrade im Kalten Krieg; für die USA bot sich die Möglichkeit einer Revanche für die Niederlage im Vietnam-Krieg (1975); die Lage Pakistans als Nachbar Afghanistans machte das Land zum idealen Aufmarsch- und Rückzugsgebiet der mujahidin und zum unverzichtbaren Frontstaat in diesem neuen Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West. Die Friedensverhandlungen in Genf zwischen Afghanistan, Pakistan, der Sowjetunion und den USA zogen sich über Jahre hin, bis im Frühjahr 1988 ein Abkommen über den Rückzug der Supermächte aus dem Krieg in Afghanistan unterzeichnet wurde; vertragsgemäß zogen die sowjetischen Truppen bis zum 15. Februar 1989 aus Afghanistan ab, der Krieg ging aber weiter.
 

Von Militärherrschaft zu Militärherrschaft

Auf pakistanischer Seite wurde das Genfer Abkommen von Premierminister Junejo unterzeichnet, der damit keineswegs als Marionette Zias handelte und kurz darauf von diesem aus dem Amt entlassen wurde. Die Entwicklung des Jahres 1988 verlief auch weiter dramatisch: erst explodierte das riesige Munitionsdepot, das der pakistanische Geheimdienst zur Belieferung der afghanischen Widerstandskämpfer am Stadtrand von Islamabad unterhielt, und am 17. August stürzte der Präsident zusammen mit einigen der ranghöchsten Generäle und dem amerikanischen Botschafter mit dem Flugzeug ab, nachdem sie sich gemeinsam eine Vorführung des neuen amerikanischen Kampfpanzers angesehen hatten. Die Umstände dieses Unglücks sind nicht geklärt, der Untersuchungsbericht wurde nicht veröffentlicht: Anlaß genug für Konspirationstheorien. Damit endete auch die Militärherrschaft Zia ul-Haqs. Der Präsident des Senats, Ishaque Khan, übernahm als amtierender Präsident die Führung des Landes und ließ im Herbst des Jahres Wahlen abhalten, die ursprünglich von Zia angesetzt und dann wieder abgesagt worden waren. Die Wahlen gewann Benazir Bhutto, die Tochter Zulfikar Ali Bhuttos; sie war allerdings auf eine Koalition angewiesen und in ihrer Macht durch den mächtigen Präsidenten und das Militär eingeschränkt. Zwei Jahre später wurde sie vom Präsidenten abgesetzt und an ihre Stelle trat Nawaz Sharif, der Führer der Islamischen Allianz, den 1993 dasselbe Schicksal ereilen sollte. Benazirs zweite Amtszeit enttäuschte auch viele ihrer einstmaligen Anhänger, 1996 entließ sie der Präsident. Nach einer Übergangsregierung und Neuwahlen folgte 1997 erneut Nawaz; dieses Mal mit großer Mehrheit. Zusammen mit der von Benazir geführten Opposition konnte er endlich den Verfassungszusatz abändern, den sich Zia auf den Leib geschneidert hatte und der dem Präsidenten weitreichende Vollmachten eingeräumt hatte. Im weiteren Verlauf gelang es Premierminister Nawaz, den Präsidenten, den Obersten Bundesrichter, den Bundeswahlleiter und den Oberbefehlshaber der Armee auszutauschen und seine politischen Gegner mit Prozessen zu überziehen und hinter Gitter zu bringen.

Wie 1977 ging die Rechnung des Ministerpräsidenten, sich mit einem vermeintlich schwachen Oberbefehlshaber das Militär gefügig zu machen, nicht auf. Deshalb nutzte Nawaz einen Auslandsaufenthalt seines Stabschefs dazu, diesen während seines Rückfluges abzusetzen und ihm die Landung auf einem pakistanischen Flughafen zu verweigern. Mit dieser Aktion gefährdete er die 198 Passagiere (darunter 50 US-Amerikaner) und Besatzung, zumal der Treibstoff der Maschine nicht ausreichte, um einen Flughafen im Ausland zu erreichen. Erst nachdem Militärs den Flughafen Karachi übernommen hatten, konnte dort die Maschine landen; General Musharraf übernahm als Oberbefehlshaber der Armee die Regierungsgewalt. Im April 2000 wurde Nawaz Sharif von einem Sondergericht (Anti-Terrorism Court) wegen Flugzeugentführung zu zweimal lebenslänglich Gefängnis, einer hohen Geldstrafe und der Einziehung seines Vermögens verurteilt; Nawaz Sharif hat gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt.

Die jüngste Machtübernahme des Militärs hat für die frühere Regierungschefin Benazir Bhutto keineswegs eine Verbesserung bewirkt: sie war bereits im April 1999 in Abwesenheit wegen Korruption zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt und für bis zu zehn Jahre von der Übernahme eines politischen Amtes ausgeschlossen worden [FT 16.4.1999]; die Militärregierung hat Interpol aufgefordert nach ihr zu fahnden. Ihr Mann befindet sich - ebenfalls wegen Korruption - bereits seit Jahren im Gefängnis.
 

Atomwaffentests und Sanktionen

Daß Pakistan nach dem Ende des Kalten Krieges und dem sinkenden weltweiten Interesse am Bürgerkrieg in Afghanistan doch wieder international Beachtung findet, hat es seinem Nachbarn Indien zu verdanken. Dort hatte die als fundamentalistische Hindu-Partei bezeichnete BJP nach ihrem Wahlsieg im Mai 1998 mehrere Atomtests durchgeführt, auf die Pakistan trotz aller internationalen Einflußversuche mit einer Serie eigener Tests antwortete. Der internationale Aufschrei und die Verhängung von Wirtschaftssanktionen waren ebenso vorhersehbar wie deren faktische Aufhebung binnen weniger Monate. Sie wirkten in Pakistan weitaus stärker als in Indien, dessen Wirtschaft weniger vom Ausland abhängig ist und sich Ende der neunziger Jahre in einem viel robusteren Zustand befand. Im Frühjahr 2000 legte Indien noch einmal nach und verkündete eine Anhebung der Verteidigungsausgaben um nie dagewesene 28 v.H. bei gleichzeitiger Verringerung der Truppenstärke. Auch wenn ein Großteil der Mittel für eine erhebliche Anhebung des Soldes verwendet werden wird, dürfte es noch für eine verbesserte technische Ausrüstung reichen. Von Pakistan wird erwartet, daß es mit einem Herabsenken der atomaren Schwelle antworten wird, eine naheliegende Alternative, wenn bei geringen finanziellen Mitteln militärische "Parität" erreicht werden soll, natürlich in der Erwartung, daß Indien auf spektakuläre Schritte in Kaschmir angesichts einer pakistanischen nuklearen Vergeltung verzichten würde. Als allerdings der indische Ministerpräsident Vajpayee im Februar 1999 überraschend nach Lahore kam, um eine direkte Busverbindung nach New Delhi einzuweihen [Economist, 27.2.199], stürzte er Pakistan damit in einen Konflikt. Unabhängig davon, ob es sich hier nur um ein taktisches Manöver oder um den Ausdruck tiefer Besorgnis über die zerrütteten Beziehungen zwischen den beiden Staaten handelte, gebot es die Gastfreundschaft, ihn mit gebührenden Ehren zu empfangen, was radikale islamistische und nationalistische Kräfte nicht daran hinderte, politisch so heftig zu agitieren, daß das diplomatische Corps nicht an dem Geschehen teilnehmen konnte. Als Ausdruck der Entspannung unterschrieben die beiden Regierungschefs am 21. Februar 1999 die Lahore Declaration, die auf eine friedliche Beilegung des bilateralen Zwistes abzielte.

Umso mehr wurde die internationale Öffentlichkeit nur wenige Wochen später von heftigen Kämpfen in Kaschmir überrascht, über die in Pakistan und Indien sehr unterschiedlich berichtet wurde. Während es sich aus pakistanischer Sicht um kaschmirische Freiheitskämpfer handelte, unterstützt durch Freiwillige aus Pakistan, die einige strategisch wichtige Positionen im Abschnitt Kargil besetzt hielten und heldenhaft verteidigten, handelte es sich aus indischer Sicht um eine militärische Operation regulärer pakistanischer Streitkräfte, die bereits vor Wintereinbruch diese strategischen Höhen besetzt hatten und jetzt den indischen Nachschub zum Siachen-Gletscher, dem höchsten Kriegsschauplatz der Welt, auf dem seit Jahren ein erbitterter Krieg tobt, unterbrachen. Daß diese großangelegte militärische Aktion von der indischen Armee unbemerkt vor sich gehen konnte, wurde vor allem dem indischen Nachrichtendienst angelastet, zur nicht geringen Freude der Pakistani. Die Kampfhandlungen, die mehr als eintausend Soldaten und Zivilisten das Leben kosteten [FT 12.7.1999], nahmen bis zum Juli 1999 an Intensität zu; der Ausbruch eines offenen Krieges konnte verhindert werden, als Nawaz mit seiner Bitte um Unterstützung in Peking scheiterte und der amerikanische Präsident Clinton sein "persönliches Interesse" an einer Wiederaufnahme der Gespräche zwischen Indien und Pakistan und einer Widerherstellung der "Kontroll-Linie" zum Ausdruck brachte [Economist 10.7.1999].

Das Kaschmir-Abenteuer wurde in Pakistan durchaus nicht von allen begrüßt und auch in Kreisen der Armee als politisch verfehlt kritisiert. Die indische Führung und Öffentlichkeit zeigten sich empört über den Vertrauensbruch gegen den "Geist von Lahore", da es nicht plausibel war, daß Nawaz Sharif von dieser Aktion nichts gewußt haben sollte, als er seinen indischen Amtskollegen in Lahore begrüßte, der Export von elektrischer Energie von Pakistan nach Indien unmittelbar bevorzustehen schien [FT 8.2.1999] und eine indisch-pakistanische Handelskammer ins Leben gerufen wurde [Economic Times, 22.2.1999], ganz zu schweigen von den Zuckerlieferungen Pakistans an Indien [FT 20.4.1999], von denen die Familie des pakistanische Premierministers mit ihren Zuckerfabriken profitierte. Die Unschuldsbeteuerungen Nawaz Sharifs halfen wenig und zeigten zudem seine Führungsschwäche: konfrontiert mit Überwachungsphotos und abgehörten Telefonaten mußte er zugeben, daß das Militär durchaus nicht unbeteiligt war, und den Rückzug anordnen. Der Versuch, sich zu Lasten der Armeeführung zu exkulpieren, führte zu einem weiteren Ansehensverlust beim Militär. Es stellt sich auch die Frage, ob die indische militärische Aufklärung nicht besser funktionierte als zugegeben und sie nur nach außen den Sündenbock spielen mußte. Dann wäre die Bus-Diplomatie eine diskrete Warnung Indiens gewesen, die von Nawaz Sharif nicht erkannt wurde und ihn letztlich das Amt und Pakistan sein Ansehen im Ausland kostete. Der militärisch Verantwortliche der Kargil-Aktion und neue "Chief Executive" Pakistans, General Musharraf, will das Kaschmir-Problem nun anders angehen. In einem Interwiev der indischen Zeitung "The Hindu" [vom 17.1.2000] kündigte er an, Kaschmir jetzt in den Mittelpunkt aller Gespräche zu stellen und nicht, wie bisher, auszuklammern und mit weniger verfänglichen Fragen zu beginnen: "Wir werden Kaschmir und alle anderen Streitigkeiten und nicht alle anderen Streitigkeiten und Kaschmir diskutieren, denn Kaschmir ist das Hauptanliegen". Dies läßt keine Entspannung in Südasien erwarten.
 

Südasien nach dem Besuch Präsident Clintons

Angesichts der weitgehenden Wirkungslosigkeit aller Wirtschaftssanktionen verwundert es nicht, daß Präsident Clinton die beiden aufstrebenden Atommächte mit einem Staatsbesuch belohnte. Daß es ihm gelungen ist, die beiden Kontrahenten zur Mäßigung anzuhalten, ist mehr wünschenswert als wahrscheinlich. Sicher wird der erste Staatsbesuch eines amerikanischen Präsidenten nach Jahrzehnten in Indien und Pakistan als politischer Erfolg gefeiert, aber man weiß in beiden Ländern, daß der Präsident am Ende seiner Amtszeit nicht mehr im Stande sein wird, seine Versprechungen und Drohungen in die Tat umzusetzen, und in wirtschaftlichen Dingen ist die Macht des Präsidenten durch den Kongreß ohnehin beschnitten. Wie sehr die wirtschaflichen Interessen die Politik bestimmten, zeigte sich denn auch sofort nach dem Verkünden der Sanktionen anläßlich der Atomtests: die ersten Ausnahmen wurden von den konservativen US-Kongreß-Abgeordneten der Farm-Lobby zugunsten der Getreideexporte nach Pakistan durchgesetzt und die Möglichkeit, die - durchaus auch sicherheitsrelevanten - indischen Softwareexporte in die USA zu beschränken, wurde angesichts der überragenden Stellung indischer Experten bei der anstehenden Umstellung der Computer auf das Jahr Zweitausend gar nicht erst diskutiert.

Die auch während des Besuchs des US-Präsidenten andauernden Kämpfe in Kaschmir dürften seine Einschätzung, daß Südasien "der gefährlichste Ort der Welt" ist und es auch bleiben wird, solange keine Lösung des Kaschmir-Konflikts gelingt [Economist. Mar 18, 2000 : 18]. Kaschmir und die unbeugsame Haltung Indiens rechtfertigen in der pakistanischen Öffentlichkeit auch Umfang und Bedeutung der Armee und damit die politische Struktur und die Absorption erheblicher finanzieller Mittel in einem Maße, die die wirtschaftliche Entwicklung des Landes geradezu verhindert. Damit muß sich die Armee auch immer wieder die Frage stellen lassen, ob sie mit der Priorität, die sie sich und ihren Aufgaben in Staat und Gesellschaft zumißt, diesen Staat und diese Gesellschaft nicht zutiefst gefährdet.

Das liegt sicher nicht in der Absicht der Militärs; ihr Leitbild des professionellen Soldaten ist aber von der sich ändernden sozialen Zusammensetzung der Streitkräfte und dem zunehmendem Einfluß der Islamisten bedroht. Die pakistanische Armee ging aus der Kolonialarmee Britisch-Indiens hervor, die außerhalb der Unabhängigkeitsbewegung stand und (fast) keinen Anteil an der Befreiung vom "Mutterland" hatte. Ihre Führung bestand 1947 noch fast ausschließlich aus britischen Offizieren, die die Armee aus den Wirren der Teilung Indiens heraushielt. Da die Armee ihrerseits auch geteilt wurde, kann dies als Erfolg gewertet werden, trotzdem wird immer wieder die Frage gestellt, ob die Armee nicht doch einen konstruktiven Beitrag als Ordnungsmacht hätte leisten können, als die innere Ordnung in Teilen Indiens zusammenbrach und Hunderttausende getötet und Millionen vertrieben wurden. Der (erste) Kaschmir-Krieg fand ohne (offene) Beteiligung der pakistanischen Armee statt, dafür sorgte der damals noch britische Oberbefehlshaber. Da man Pakistan aber außerhalb der Landesgrenzen kaum eine Chance eingeräumt hatte, konnte sich die Armee schon bald als Garant des Staates präsentieren, zumal als sie selbst an der Macht war. Das änderte sich 1971, als man der Armeeführung den Verlust des halben Landes vorwarf. In der jüngsten Geschichte war nichts so populär wie die Zündung der Atomsprengsätze und die Flüge der Mittelstrecken-Raketen. Auch im mißglückten Kargil-Abenteuer im Jahre 1999 reichte es wieder, Indien - aus pakistanischer Sicht - Paroli geboten zu haben.
 

Entwicklungsleistungen und -defizite

Die Entwicklungsleistungen des Militärs sind eher als bescheiden einzustufen, zumal das Militär ja für die Entwicklung der Wirtschaft direkt und indirekt in den letzten Jahrzehnten (mit-)verantwortlich war. Dabei hat das Militär selbst auf solche Maßnahmen verzichtet, die ihm anderswo Achtung und Erfolg einbrachten, etwa auf den Gebieten der Volksbildung und Volksgesundheit, der Schaffung einer für die Rüstungsindustrie erforderlichen weiterführenden Bildung, Forschung und Entwicklung und einer entsprechenden Infrastruktur. Bis heute gibt es keine allgemeine Schulpflicht, bei den Sozialindikatoren (Bildung, Gesundheit) zählt Pakistan zu den Schlußlichtern im internationalen Vergleich, bei Forschung und Entwicklung hat Pakistan bekanntlich einige Erfolge aufzuweisen, namentlich in der Nukleartechnik, doch im Bereich der Informationstechnologie ist Pakistan gegenüber Indien weit zurückgefallen; in der Rüstungs- und rüstungsnahen Industrie (Stahlwerk Karachi) geht die Initiative auf den Zivilisten Bhutto zurück. In der Infrastruktur hat man mehr als Indien auf den Ausbau der Fernstraßen gesetzt und die Eisenbahnen vernachlässigt. In der Telekommunikation zahlt sich allerdings die schon früher liberalere Importpolitik aus. Nach wie vor ist aber die gesellschaftliche Durchlässigkeit des Militärs begrenzt. Grundsätzlich ausgeschlossen sind alle diejenigen, die über keinerlei formale Qualifikation verfügen, und Eingang in die begehrte (weil wirtschaftlich attraktiv) höhere militärische Laufbahn finden nur diejenigen, die auf die strengen Eignungstests durch Herkunft und Erziehung vorbereitet sind. Auch wenn das klassische Muster, daß nämlich die Offiziere aus der Gruppe der großen Landbesitzer, die Unteroffiziere aus der Gruppe der größeren Bauern und die einfachen Soldaten aus der der Kleinbauern und Landarbeiter kommen, nicht mehr ganz so gilt wie noch vor Jahrzehnten, besteht ein System fort, in dem die einflußreichen Feudalfamilien ihre Söhne in die verschiedensten Führungspositionen abordnen, so daß sich Landbesitzer, Militärs, Bürokraten, freie Berufe und Politiker jedweder Couleur in derselben Familie finden lassen. Heute ist das Militär aber nicht mehr unbedingt erste Karrierewahl, so daß die nach wie vor gängige These, daß islamistische Strömungen keine Chancen im pakistanischen Militär hätten, nicht mehr lange Bestand haben muß. In den mittleren und weit weniger üppig bezahlten Rängen finden sich heute viele, die sich von einem System der Kleptokratie abgestoßen fühlen und Zuflucht in der Religion gefunden haben. Die Forderung nach sozialem Ausgleich und die Verpflichtung zu tätiger Nächstenliebe sind für sie ernste Anliegen; sie sehen sich nicht selten als (ideelle) Mitstreiter der Taliban in Afghanistan und der "Freiheitskämpfer" in Kaschmir.

Hier lauert denn auch eine der Gefahren für die neue Militärregierung. Auch sie ist wieder mit dem Anspruch angetreten, die himmelschreienden Mißstände zu beseitigen. Dazu gehören die Kredite in Milliardenhöhe, die von den meist staatlichen Banken an politische Machthaber und Günstlinge vergeben wurden, ohne auf die Bonität der Schuldner zu achten und ohne einen geregelten Schuldendienst herbeizuführen. Die meisten der Großschuldner wären durchaus im Stande, die vertraglichen Tilgungen und Zinszahlungen zu leisten; sie unterlassen dies aber in der sicheren Erwartung, daß diese Verpflichtungen eines Tages ohne weitere Konsequenzen aus den Büchern der Banken als uneinbringliche Forderungen getilgt werden. Derlei Praktiken sind seit Jahrzehnten bekannt und waren bereits in den siebziger Jahren Gegenstand heftiger Klagen der internationalen Geber, ohne daß sich daran etwas geändert hätte. Ministerpräsident Nawaz Sharif hatte eine Art Rechnungshof (National Accountability Bureau - NAB) eingesetzt, der aber vor allem die Verfolgung der politischen Gegner zum Ziel hatte. Dieses Amt wurde jetzt von den Militärs umorganisiert und mit weiteren Vollmachten ausgestattet. Allerdings wurden einzelne Gruppen von den Nachforschungen verschont, insbesondere das Steritkräfte, womit sich die Militärregierung selbst desavouierte. Aus dieser Situation wird sie sich auch nicht befreien können, denn entweder verzichtet sie auf ihren moralischen Anspruch, unparteiisch jeden Kreditbetrug zu ahnden, oder aber sie legt sich mit ihrer eigenen Klientel an. Denn aus der geschilderten Konstellation heraus ergibt es sich, daß die höheren Militärs nicht etwa aus einer reinen Soldatenkaste stammen, sondern mit allen privilegierten Gruppen, vor allem mit dem Landbesitz, verwandtschaftlich verbunden sind.

Ist daraus zu schließen, daß das Militär bald abgewirtschaftet hat und wieder einer Zivilregierung Platz machen wird? Diese Frage kann aus der Erfahrung Pakistans nicht bejaht werden. Offensichtlich ist es viel leichter, die Macht zu übernehmen, als sie auszuüben und sich in Ehren zurückzuziehen. Das Militär hat bei der jüngsten Machtübernahme darauf verzichtet, die Abhaltung baldiger Parlamentswahlen anzukündigen. Vorerst sind nur Wahlen auf lokaler Ebene und als reine Persönlichkeitswahlen geplant. Dazu sollen wieder die untersten politischen Organe mobilisiert werden, ein im Prinzip löbliches Unterfangen, wenn nicht das exakte Pendant, nämlich die "Basisdemokratien" Ayub Khans, gescheitert wären. Dazu muß man wissen, daß die untersten Verwaltungsorgane mit unseren Städten und Gemeinden nicht vergleichbar sind. Sie verfügen praktisch über keine eigenen Einnahmen, sind von kärglichen Finanzzuweisungen der oberen Verwaltungsorgane abhängig und fristen entsprechend ein kümmerliches politisches Leben.

Einen größeren Effekt könnten die angekündigten Maßnahmen im sozialen Bereich haben, namentlich die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht. Dem stehen aber die leeren Kassen entgegen und immer noch politische und religiöse Widerstände, da die lokalen Feudalherren und Geistlichen an einer allgemeinen bildungsmäßigen Emanzipation, zumal der Mädchen, durchaus nicht immer interessiert sind. Ohne erhebliche Anstrengungen im Bildungswesen wird sich Pakistan aus seiner Krise nicht befreien können.

Der Besuch des US-Präsidenten Clinton im März 2000 hat die Zuwendung der USA zu Indien und die Abkehr von Pakistan vor Augen geführt. Ein derart dramatischer Kurswechsel war nicht vorprogrammiert. Nach den indischen Atomtests im Mai 1998 schien es, als habe Indien seinen Sympathievorsprung im Westen eingebüßt, der Bürgerkrieg in Kaschmir rückte in das Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit und für die pakistanische Position gab es durchaus Verständnis. Versuche, Pakistan davon abzuhalten, ebenfalls seine Atomsprengsätze zu testen, blieben jedoch erfolglos; damit wurde die Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung in Südasien offensichtlich. Daß die Wirtschaftssanktionen wenig ausrichten würden, war abzusehen: zu inflationär ist dieses Instrument von den USA im letzten Jahrzehnt eingesetzt worden. Auch daß die Sanktionen Pakistan stärker treffen würden als Indien, war zu erwarten gewesen, nicht aber, daß Pakistans Wirtschaft sich in einem derart desolaten Zustand befinden würde. Mitverantwortlich dafür ist die Tatsache, daß Statistiken geschönt worden waren [FT, 1.5.2000].
 

Erosion der politischen und wirtschaftlichen Kultur

Die Erosion der politischen und wirtschaftlichen Kultur in Pakistan und die Errichtung einer vom Volk gewählten und parlamentarisch abgesegneten "Demokratur" können dafür verantwortlich gemacht werden. Die Weltbank hat wiederholt, neben dem Mißbrauch des Kreditwesens, die geringe Steuerbasis kritisiert. Vor allem die Landwirtschaft erfreut sich traditionell einer generellen Steuerbefreiung; andere weite Bereiche sind de facto steuerbefreit. Dieser prosperierende sogenannte informelle Sektor erstreckt sich über alle Wirtschaftsbereiche und ist staatlicher Kontrolle weitestgehend entzogen. Deshalb ist eine Positionsbestimmung der pakistanischen Wirtschaft schwierig geworden.

Das Problem läßt sich an Hand des Außenhandels demonstrieren: Afghanistan ist als Binnenland auf den Transitverkehr durch seine Nachbarländer angewiesen. Karachi dient traditionell als Haupteinfuhrhafen. Die Importe werden per LKW transportiert; die pakistanische Eisenbahn fährt zwar bei Peshawar und Quetta bis (fast) an die Grenze, ist aber heute ohne große Bedeutung. Nach dem Transitabkommen erhebt Pakistan auf den Transit keine Zölle, und da die Grenze zu Afghanistan durchlässig ist, hat dies schon immer dazu verlockt, die Waren aus Afghanistan nach Pakistan zurück zu schmuggeln. Dies ist deshalb so einfach, weil die 1893 gezogene Durand-Linie das Siedlungsgebiet der Pashtunen durchschneidet, die (heute) auf pakistanischer Seite lebende Stammesbevölkerung sich aber viele ihrer aus der Kolonialzeit stammenden Privilegien erhalten konnte, einschließlich der völligen Steuerbefreiung. Dazu übertrug ihnen der Staatsgründer Jinnah nach der Unabhängigkeit die Verteidigung der Grenze. Das so entstandene "Niemandsland" mit einer Bevölkerung von mehreren Millionen ist nach wie vor sowohl nach Afghanistan als auch nach den "settled districts" Pakistans hin offen. Die pakistanische Regierung hat es selten auf eine Konfrontation mit den Stämmen ankommen lassen, da immer die Gefahr bestand, daß sich diese Afghanistan anschließen würden, das ohnehin einen Anspruch auf "Pashtunistan", d.h. die Gebiete rechts des Indus, erhob und einst sein Veto gegen Pakistans Aufnahme in die Vereinten Nationen eingelegt hatte. Nach der sowjetischen Invasion Afghanistans wurden die Stammesgebiete das wichtigste Rückzugs- und Aufmarschgebiet der mujahidin, der afghanischen Freiheitskämpfer. Schon immer wurde hier ein großer Waffenkult getrieben und auch Rauschgift (Haschisch, Mohn) angebaut. Der Waffen- und Rauschgifthandel ist heute wirtschaftlich bedeutender denn je. Daß die Stammesbevölkerung zudem religiös orthodox eingestellt ist und den Taliban nahe steht, kompliziert die Lage für die pakistanische Regierung, die sich von Seiten der USA und der anderen großen Geber unter Druck gesetzt sieht, etwas gegen den Waffen- und Rauschgifthandel zu unternehmen, sich von den Taliban zu distanzieren und ihre Steuereinnahmen zu erhöhen. Der Umfang des "Transithandels" wurde vor Jahren auf 2 Mrd. US$ geschätzt; die Financial Times zitiert eine Schätzung, nach der sich allein der Ausfall an Zolleinnahmen auf 2,9 Mrd. US$ belaufen würde, halb soviel wie die Steuereinnahmen [FT, 26.4.2000]. Der Versuch der Militärregierung im April 2000, den "Transithandel" einzudämmen, wird deshalb von allen Seiten mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Technisch dürfte das nicht schwierig sein, weil ein großer Teil des Transits Afghanistan nie erreicht und schon auf dem Wege dorthin abgeladen wird. Es ist aber um diesen "Transit" ein ganzes Wirtschaftssystem herum entstanden: in jeder größeren Stadt gibt es heute sogenannte Bara-Märkte mit Schmuggelware. Als Protest gegen diesen Angriff auf ihre Geschäftsgrundlage haben die Händler diese Märkte Ende April 2000 im ganzen Lande geschlossen, um die Regierung zum Einlenken zu zwingen. Für die Militärregierung bedeutet dies eine nicht ungefährliche Kraftprobe; sie bedroht auch die Glaubwürdigkeit des Militärs, das große Wirtschaftsunternehmen betreibt, deren Aufgaben und Tätigkeit Gegenstand heftiger Spekulationen sind.

So gibt es angeblich einen illegalen Handel beträchlichen Ausmaßes über die Grenze mit Indien. Diese erstreckt sich, schließt man Kaschmir mit ein, über mehrere tausend Kilometer von China bis zur Arabischen See. Von Seiten der pakistanischen Handelskammer wurde der Umfang der illegalen Importe aus Indien auf 1,5 Mrd. US$ geschätzt, das Zehnfache der offiziellen Einfuhren aus dem Nachbarland [The News, 7.3.1999]. Im Gegensatz zur Grenze im Westen handelt es sich aber im Osten um eine militärisch gut gesicherte und bewachte Grenze, die bis auf den Übergang bei Lahore (Eisenbahn und Straße) hermetisch verschlossen ist. In Kaschmir findet ein unerklärter Grenzkrieg statt, im südlichen Punjab und Sind verläuft die Grenze durch menschenleere Wüsten und Steppen. Allein im nördlichen Punjab ist das Grenzgebiet dicht besiedelt; hier haben die Inder aber einen Zaun gezogen, um sich vor Sikh-Terroristen zu schützen, so daß man sich keinen Schmuggel in größerem Umfang vorstellen kann. Bei den genannten Beträgen müßte es sich aber um einen Handel von beträchtlichem (physischen) Volumen und Gewicht handeln, weit mehr als sich aus den Augenzeugenberichten über gelegentlichen Viehtrieb über die Grenze schließen ließe. Anders stellt sich die Situation dar, wenn man diejenigen Importe aus Indien einschließt, die auf dem Umweg über Drittstaaten und/oder im Rahmen des Afghanistan-Transit-Handels nach Pakistan gelangen. Auf direktem Wege wäre jedenfalls ein Schmuggel größeren Umfangs aus Indien ohne Mithilfe des Militärs nicht vorstellbar.

An den staatlichen Organen vorbei bewegt sich auch ein großer Teil des Kapitalverkehrs mit dem Ausland. Pakistan hatte seinen Zahlungsverkehr stärker liberalisiert als Indien und erlaubte seinen Bürgern Konten in ausländischer Währung; Pakistani im Ausland wurden mit hohen Zinsen für die Anlage in Pakistan belohnt, die Zusicherung, keine Fragen nach der Herkunft des Geldes zu stellen (whitener bonds), mußte zurückgenommen werden, um dem seitens der USA erhobenen Vorwurf der staatlich sanktionierten Geldwäsche zu entgehen. Das Vertrauen der Bürger wurde aber schlagartig enttäuscht, als Pakistan nach dem Einsetzen der Sanktionen Devisenguthaben in Höhe von 11 Mrd. US$ einfror. Diese Maßnahme war auch von maßgeblichen pakistanischen Ökonomen als Überreaktion abgelehnt worden; der Umstand, daß regierungsnahe Kreise ihre Guthaben rechtzeitig ins Ausland transferieren konnten, trug dazu bei, daß die Regierung Nawaz Sharif als untragbar empfunden wurde.
 

Demokratisierung und Islamisierung

Wirksame Kontrollen werden sich nur durch demokratische Institutionen erreichen lassen. Wie die von den Militärs angestrebte "Wahre Demokratie" (real democracy) aussehen soll, läßt sich aber Mitte 2000 kaum erahnen. Im März 2000 präsentierte der "Chief Executive" seine Vorstellungen von Dezentralisierung (devolution). Danach soll der Demokratisierungsprozeß im Herbst 2000 beginnen. Auf "lokaler" Ebene soll es gewählte Gremien auf drei Stufen geben: Union Councils (zu denen jeweils mehrere Dörfer zusammengefaßt werden), Tehsils (Steuerbezirke) und Distrikte; die Gemeinderäte der Union Councils und die Distriktsräte sollen direkt, die Tehsil-Räte indirekt gewählt werden. Alles in allem wäre 200.000 Lokalpolitiker zu wählen. Die Bezirke (divisions), die jeweils mehrere Distrikte umfassen, sollen reine Verwaltungseinheiten bleiben; die Provinzparlamente und das Nationalparlament sollen erst später gewählt werden. Die zentrale Frage der Entscheidungs-Kompetenz und Finanzierung der unteren gewählten Gremien bleibt offen. Es hat sich auch gezeigt, daß solche halbherzigen Demokratisierungsversuche kein Ersatz für gewählte zentrale Gremien sein können.

So droht auch heute wichtige Zeit zu verstreichen, ohne daß die angesprochenen notwendigen Reformen in Angriff genommen werden können. Dabei hat der Besuch Clintons die politische Zweitklassigkeit deutlich vor Augen geführt. Ein neuer Bedeutungsverlust droht bei einer Verbesserung der Beziehungen der USA zum Iran: würde die geplante Pipeline aus Turkmenistan an den Arabischen Golf durch den Iran und nicht, wie geplant, durch Afghanistan und Pakistan gelegt werden, entfielen für Pakistan die erhofften Transit-Gebühren und Pakistan hätte von den Gebern noch weniger Nachsicht und eine geringere Auslandshilfe (weil strategisch weniger bedeutend) zu erwarten. Wirtschaftlich ist Pakistan ohnehin gegenüber Indien weit abgefallen, dem es bei den Dienstleistungsexporten (Software, Tourismus) nichts entgegensetzen kann. Es bliebe ein gewisses militärisches Störpotential, das aufrechtzuerhalten angesichts indischer Aufrüstung immer teurer wird und zu Lasten der unerläßlichen Investitionen in die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur (Ausbildung) geht.

Anfang Mai 2000 meldete die pakistanische Presse stolz, daß das neue, mit chinesischer Hilfe erbaute, 300-MW-Kernkraftwerk bei Chasma am Indus die Arbeit aufgenommen habe. Dieses und das KKW bei Karachi seien die einzigen beiden KKWs "in der Islamischen Welt" [Dawn, 4.5. 2000]. Das Kraftwerk soll die Einfuhr einer halben Million Tonnen Erdöl ersetzen und die Zahlungsbilanz entlasten; falls hier waffenfähiges Material gewonnen werden kann, wird dies vor allem in Indien als Bedrohung wahrgenommen werden. Außerhalb Südasiens befürchtet man vor allem in den USA eine nukleare Eskalation. Dies umso mehr, als der Grenzkrieg in Kaschmir auch nach dem pakistanischen Rückzug weiter andauert. Ein weiteres Kräftemessen mit dem übermächtigen Nachbarn würde von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Pakistan ablenken und kann deshalb nicht ausgeschlossen werden.

Seit den Atomtests ziehen sich die Verhandlungen mit den Gebern hin. Musharraf wird erklären müssen, wie er mit der Islamisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verfahren will. Das Oberste Bundesgericht hat im November 1999 die Regierung aufgefordert, bis zur Jahresmitte 2000 alle zinstragenden Transaktionen zu unterbinden [FT 4.12.1999]. Dabei ließ sich das Gericht von der Überlegung leiten, daß ein fester, erfolgsunabhängiger Zinssatz Wucher darstelle und deshalb unislamisch sei. Dies betrifft aber nicht die Auslandsschuld, da nach verbreiteter Auffassung das Zinsverbot nicht für den Geschäftsverkehr mit Nicht-Muslimen gilt. Trotzdem lagert hier erheblicher politischer Sprengstoff, da die Umgehung des seit zwei Jahrzehnten immer wieder offiziell verhängten Zinsverbotes von den Islamisten als klarer Verstoß gegen islamisches Recht gesehen wird. In der Frage der honour killings, Morden aus Gründen der "Familienehre", die nach dem Urteil der Islam-Gelehrten keineswegs mit islamischem Recht vereinbar sind, hat Musharraf bereits Stellung bezogen; damit stellt er sich aber gegen islamistische Populisten, die ihn ebenso wie die Anhänger Benazir Bhuttos and Nawaz Sharifs bekämpfen werden. Ungemach droht auch aus den USA, wo wieder einmal Sanktionen wegen der nach wie vor verbreiteten Kinderarbeit drohen. Nach bald einem Jahr Militärherrschaft zeichnet sich nicht ab, daß das Militär die Kraft besitzt, eine konsistente Politik zu entwickeln und durchzusetzen. Angesichts des Mangels an Alternativen ist aber zu erwarten, daß das Militär auch in absehbarer Zukunft eine bestimmende Rolle in Pakistans Politik (und Wirtschaft) spielen wird.
 

Weiterführende Literatur:

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Hasan Askari Rizvi: Military, state and society in Pakistan. London: Macmillan. 2000.

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Literatur:

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FT 8.2.1999: Peter Montagnon: India to purchase surplus electric power from Pakistan. In: Financial Times. Feb 8, 1999. p. 16.

FT 4.4.1999: Farhan Bokhari, James Mason: Bhutto sentenced to five-year term. In: Financial Times, April 4, 1999, p. 4.

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FT 26.4.2000: Farhan Bokhari: Pakistan's smugglers fall upon taxing times. In: Financial Times, April 26, 2000, p. 4.

FT 1.5.2000: Farhan Bokhari: Musharaf may seek at least $2bn new IMF loan. In: Financial Times. May 1, 2000. p. 3.

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