Wolfgang-Peter Zingel
Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik

Wie informell ist der formelle Sektor?

Vortrag, Wochenendseminar "Was ist das Erfolgskonzept der Grameen Bank? Welche Berufschancen bietet sie für afrikanische und asiatische Akademikerinnen und Akademiker, die in ihre Heimatländer zurückkehren?" 20. bis 22. September 1997 in Frankfurt am Main.

In gekürzter Form erschienen in: Afrika Asien Rundschau. Zeitschrift des Arbeitskreises Arikanisch-Asiatischer AkademikerInnen. Göttingen. 13(März 1998)1. pp. 8-13.
 

Notleidende Kredite

Vor ein paar Monaten unterhielt ich mich mit einem alten Freund aus Südasien über die Entwicklungsprobleme seines Landes. Ich erwähnte die notleidenden Kredite (bad debt) in Milliardenhöhe, die in Indien, Pakistan und Bangladesh (und wahrscheinlich auch anderswo) zu beklagen sind und den Glauben am politischen Willen der Regierungen dieser Länder erschüttern, zumal die Schuldner Zinsen und Tilgung nicht etwa nicht zahlen, weil sie kein Geld haben, sondern weil sie sich Dank ihrer Macht und ihres Einflusses ungestraft ein solches Verhalten leisten können:

In Pakistan wurden die notleidenden Forderungen der Banken im November 1996 mit 120 Mrd. pak. Rupien [Financial Times v. 23.10.1996] angegeben, das entspricht der Hälfte des Bargeld-Umlaufs. In Indien beliefen sich die Kredite an "kranke" (sick) Unternehmen allein auf 131 Mrd. ind. Rupien oder 9 v.H. aller Ausleihungen der Banken [Joshi and Little 1996 : 123]. Aus Bangladesh wird Anfang der 90er Jahre berichtet, daß nur ein Viertel der fälligen Tilgung und Zinsen (recovery rate) gezahlt würden [Gans 1991 : 42].

Mein Freund fand das nicht weiter tragisch, lachte und schien dem Problem keine Bedeutung beizumessen. Das hat mich verblüfft, denn er ist sonst ein vernünftiger Mensch, der sich immer für die Entwicklung seines Landes eingesetzt hat; er hatte eine Reihe der höchsten Staatsämter inne, er hat sich für Freiheit und Demokratie engagiert, deshalb unter verschiedenen Regierungen im Gefängnis gesessen und ist einer der besten Anwälte seines Lande, der sein Geld vor allem als Wirtschaftsrechtler verdient.

Aus dieser Episode lassen sich meines Erachtens eine ganze Reihe von Schlüssen in Bezug auf die Entwicklungsprobleme und das Problembewußtsein ziehen, die nicht notwendigerweise auf dieses Land, auf Südasien oder auf die Entwicklungsländer begrenzt sein müssen, und die auch nicht nur das Kreditwesen betreffen.

Warum Grameen Bank?

Dieses Wochenendseminar beschäftigt sich mit dem Erfolgsrezept der Grameen Bank. Erfolg in welcher Beziehung? Und Erfolgsrezept für wen und unter welchen Bedingungen? Wäre dieses Rezept auch uns in Deutschland zu empfehlen? Immerhin werden wir neuerdings zur Gruppe der Newly Declining Economies gezählt; uns wird längst die Lösungskompetenz für Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung bestritten, die wir zur Zeit des "Wirtschaftswunders" noch zu haben glaubten.

Was die Grameen Bank tut, und wodurch sie sich auszeichnet, wissen Sie: Sie vergibt Kredite an diejenigen, die sonst keine Kredite bekommen, z.B. an Arme, insbesondere Frauen, und diese Kredite werden auch "bedient", das heißt, die Zinsen und Tilgung werden bezahlt, ganz im Gegenteil zu den eingangs genannten Fällen. Wie dieses Wunder erreicht wird, wird morgen Professor Yunus erzählen. Ich habe es mir zur Aufgabe gesetzt zu versuchen herauszuarbeiten, warum es einer Grameen Bank überhaupt erst bedurfte, und warum wir sie in reicheren Volkswirtschaften nicht so dringend benötigen.

Ich nannte zwei Aspekte: den Zugang zu Kredit und die Effizienz. Beide sind nur schwierig in Einklang zu bringen: In dem Maße, wie Kreditinstitute den Zugang zu Kredit erleichtern, gehen sie auch höhere Risiken ein, die sie sich durch einen höheren Preis, sprich höhere Zinsen, vergüten lassen. Höhere Zinsen beeinträchtigen aber wieder den Zugang zu Kredit.

Diese Probleme gibt es auch hier in Deutschland. Bis in die 60er Jahre war es für Arbeitnehmer schwierig einen Konsumkredit zu bekommen; auf Kundenkredit spezialisierte Institute verlangten hohe Zinsen. Um einen Geschäftskredit, etwa zur Gründung eines eigenen Unternehmens nach dem Studium, zu bekommen, müssen die Antragsteller noch immer Sicherheiten stellen, die das Risiko der Banken so gut wie ausschließen. Der Spruch, daß nur der einen Kredit bekommt, der nachweisen kann, daß er ihn nicht braucht, gilt bei uns noch immer.

Genossenschaften

Schwierigkeiten, einen Kredit zu bekommen, haben in Deutschland im letzten Jahrhundert zur Genossenschaftsbewegung geführt: teils reine Kreditgenossenschaften, teils in Verbindung mit Warengenossenschaften, sektoral (Landwirtschaft, Handwerk) und lokal/regional spezialisiert. Gemeinsames Sparen und Solidarhaftung haben es ermöglicht. Heute ist der Verbund der Genossenschaftsbanken eine der stärksten Säulen des deutschen Kreditwesens. Genossenschaften entstanden in vielen Ländern Europas, und bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts versuchten die Briten, die Genossenschaftsidee in Indien heimisch zu machen. Auf dem Papier zählen heute die Genossenschaften in den Ländern Südasiens nach Zigtausenden, ohne aber einen Erfolg wie in Europa vorweisen zu können. Viele existieren nur auf dem Papier und sind weitgehend funktionslos. Das liegt zum Teil an der verordneten Freiwilligkeit. Das sogenannte top down bottom up entspricht kaum dem Selbsthilfegedanken; Kreditgenossenschaften, die staatliche Entwicklungsgelder weiterleiten, sind nur dem Namen nach Genossenschaften.

Dies liegt zum Teil an der strengen Aufsicht über die Genossenschaften, die die Mitglieder vor dem Verlust ihres Vermögens schützen soll. Die Einlagensicherung ist deshalb so wichtig, weil Kreditinstitute noch solvent sind, wenn sie bereits überschuldet sind. Ihr Zustand ist auch nicht ohne weiteres aus der Bilanz abzulesen:

Nach amtlichen Angaben machten notleidende Kredite (non performing assets) 1992/93 24 v.H. der Ausleihungen (loan portfolio) aller indischer Banken aus; bei Anlegung strengerer Maßstäbe wären es noch weit mehr gewesen [Joshi and Little 1996 : 119].

Kontrollen der Kreditinstitute können aber auch kontraproduktiv sein: Die Angst vor Fehlschlägen läßt das Management nach risikolosen Anlagen für die ihnen anvertrauten Gelder suchen. Das kann zu einem Kapitaltransfer aus dem ländlichen Bereich hinaus und von sozial Schwachen zu den Wohlhabenden führen (weil diese Sicherheiten stellen können). Soweit der Staat als Kreditnehmer mit attraktiven Zinsen auftritt, ist es für das Management der Kreditgenossenschaften einfacher, sicherer und vielleicht auch rentabler, die Einlagen an den Staat weiterzureichen. Dies um so mehr, wenn das Management der Kreditgenossenschaften auf staatliche Weisung zu hören hat.

Selbsthilfe

Selbsthilfe ist das zentrale Moment der Genossenschaften. Auch mit kleinen Einlagen ist es möglich, wenigstens einigen Mitgliedern Kredit zu gewähren. Dabei gibt es eine ganze Reihe von Zuteilungssystemen, etwa Bedürftigkeit, Anciennität, Zufall (Lotterie) oder Versteigerung. Wichtig ist die Marktnähe, d.h. die Information, die die Mitglieder über ihre Nachbarn und Freunde haben, und die es ihnen erlaubt, die Rückzahlungsfähigkeit und -bereitschaft einzuschätzen; wichtig ist auch die Möglichkeit, sozialen Druck auszuüben.

Dies sind Elemente, die Professor Yunus voraussichtlich morgen herausstellen wird. Es wird interessant sein zu hören, wie sich unter diesen Umständen der Gedanke der Selbsthilfe aufrechterhalten läßt.

Selbsthilfeeinrichtungen im Kreditwesen werden zuweilen dem informellen Sektor zugerechnet. Nachdem die Grameen Bank in Bangladesh und anderswo eine registrierte Bank ist, trifft dies für sie nicht mehr zu. Lassen Sie mich aber trotzdem ein paar Worte über den informellen Sektor sagen.

Die großen Erwartungen, die in puncto informeller Sektor gehegt werden, liegen vor allem daran, daß der sog. formelle Sektor die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Das liegt, um beim Beispiel des Kreditwesens zu bleiben, natürlich auch an seiner Geschichte.

Zur Entwicklung des Kreditwesens in Südasien

Die Länder Südasiens, die mir als Beispiel dienen, standen ganz oder teilweise lange unter Kolonialherrschaft; sicher gab es hier auch Bankiers bevor die Europäer kamen, aber die modernen Geschäftsbanken, die seit dem 19. Jahrhundert gegründet wurden, standen im Dienste der Kolonialmacht und wurden zumeist von Ausländern dominiert.

Die Nationalisierung der wichtigsten Wirtschaftseinrichtungen nach der Unabhängigkeit hatte zwei Zielrichtungen, die häufig - im Englischen auch terminologisch (nationalisation) - zusammenliefen: die Übernahme sowohl in einheimische als auch in staatliche Hände: Nationalisierung und Verstaatlichung.

Vor allem in Indien glaubte man daran, daß Entwicklung durch Industrialisierung stattfinden müßte. In Ermangelung einheimischer Unternehmer, technischen Sachverstands (know how) und Kapitals sollte der Staat die Rolle des Initiators, Innovators und Investors übernehmen. Da der Kapitalmarkt nur schwach entwickelt war, übernahm der Staat auch die Organisation der Finanzierung, weniger aus dem Steuereraufkommen als durch Geldschöpfung und Kredite des Auslands. Der Inflationsgefahr begegnete man mit weitgehenden Eingriffen in die Preisgestaltung. Um dem Verfall des Wertes der eigenen Währungen zu verhindern, erschienen Kontrollen der internationalen Finanzströme unumgänglich, die indische und pakistanische Rupie, später auch der Bangaldeshi Taka, wurden zu "weichen" Binnenwährungen ohne internationale Kaufkraft.

Um die von der Regierung favorisierten Entwicklungsziele zu verwirklichen, wurden Kredite für bestimmte Zwecke verbilligt, und soweit die Nachfrage nach diesen Krediten die Mittel überstieg, mußten sie zugeteilt werden.

Diese Aufgaben ließen sich nur bedingt mit privaten Banken durchführen, die bekanntlich auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind und ihre Zinsen am Markt ausrichten. Ein Kompromiß waren die Zahlung von Zinssubventionen und die Übernahme des Risikos durch den Staat: Bei diesen sog. durchlaufenden Krediten dienten die privaten Kreditinstitute nur noch der Kreditabwicklung. In Indien und anderswo begann der Staat auch Zinssätze für die Kreditvergabe und Anteile einzelner Bestimmungen festzulegen: So mußten die Banken einen bestimmten Anteil ihrer Kredite an die Landwirtschaft zu Vorzugszinsen vergeben; die Zinsdifferenz wurde auf dem Wege der sog. Quersubvention (cross subsidy) durch die höheren Sätze in anderen Bereichen ausgeglichen.

Die Übernahme des Kreditrisikos durch den Staat, sei es bei durchlaufenden Krediten, bei den Krediten staatlicher Kreditinstitute oder bei Krediten, die der Staat direkt vergibt, wird dann problematisch, wenn die Rückzahlung und/oder Zinszahlung grundsätzlich oder arbiträr unterlassen werden kann.

Das ist oft nicht ohne weiteres erkennbar, nämlich dann nicht, wenn Kredite von Anschlußkrediten, womöglich an Familienangehörige oder Dritte, abgelöst werden. Häufig erspart man sich aber sogar diese Mühe (oder die Banken machen eine solche Verschleierung nicht mit), und immer höhere notleidende Kredite werden durch die Bücher (als Aktiva) geschleppt.

Es ist dann eigentlich nur noch konsequent, wenn derartige notleidende Kredite als uneinbringbare Forderung aus den Büchern getilgt werden oder wirtschaftlich ausgedrückt "abgeschrieben" werden. In Indien hat man dies zuweilen im großen Stil getan: Agrarkredite ganzer Unionsstaaten wurden erlassen. Damit wurden diejenigen, die keinen Kredit bekommen hatten, ein zweites Mal bestraft. Auch wenn es wirtschaftlich zuerst einmal keinen Unterschied macht, ob ein Kredit, der nicht bedient oder getilgt wird, erlassen wird oder nicht, so werden doch die falschen Signale gesetzt: jetzt lohnt es sich erst recht, sich um einen Kredit zu bemühen, da er ja die Form eines Zuschusses annimmt.

Soweit sich aber Banken dazu durchringen sollten, alle uneinbringbaren Forderungen abzuschreiben, dürften viele von ihnen vor dem Konkurs stehen: Entsprechend der Verringerung ihrer Forderungen würde nämlich auch ihr Eigenkapital vermindert und evtl. sogar negativ werden. Entsprechend schwierig ist es, derart überschuldete Banken zu privatisieren: eine Erfahrung die man gerade in Pakistan macht.

Nach der Unabhängigkeit wurden in Indien und Pakistan staatliche Entwicklungsbanken gegründet; die Verstaatlichung der Banken im großen Stil erfolgte erst Ende der 60er (Indien) und Anfang der 70er Jahre (Pakistan, Bangladesh). Hierfür gab es eine Reihe von Gründen, zum Teil allgemeiner und politischer Art. Die Verstaatlichung der Banken erlaubte eine viel strengere Kontrolle; eine Umgehung der strengen Devisenbewirtschaftung durch Unter- und Überfakturieren im Außenhandel wurde erschwert; die Filialnetze vor allem auf dem Lande konnten ohne Rücksicht auf Rentabilität ausgebaut werden; der wachsende Kreditsektor bot die Möglichkeit, Tausende von Oberschülern und Akademikern, die im kopflastigen Bildungssektor ausgebildet wurden, unterzubringen. Daß das Kreditwesen in Südasien heute als personell hoffnungslos überbesetzt gilt, hat hier seine Ursachen. Derlei branchen-fremde Motive erlaubten es den indischen Bankangestellten, die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung zwei Jahrzehnte aufzuhalten. Damit wurden Arbeitsplätze sichergestellt, aber auch eine wirkungsvolle Kontrolle verhindert. Einige Banken- und Börsenskandale größten Ausmaßes wurden damit heraufbeschworen; das Ausmaß notleidender Kredite konnte verschleiert werden. Daß mittlerweilen, z.B. in Pakistan, endlose Computer-Listen mit säumigen Schuldnern veröffentlicht werden können, ist nicht nur eine Frage der gewandelten politischen Kultur, sondern auch verbesserter technischer Möglichkeiten.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Verstaatlichung der Banken sollte - so hoffte man - die Regierungen in die Lage versetzen, Kredite zu Vorzugsbedingungen gezielt zu vergeben. Der Verzicht auf Kontrollen bedeutete aber, daß diese Kredite die Zielgruppen nicht erreichten und die Empfänger die Kredite zudem weder bedienten noch zurückzahlten und schließlich ihre Kredite erlassen bekamen, bzw. den Schuldenerlaß als Recht einfordern konnten. Durch das crowding out, d.h. die Verdrängung, privater Kreditnehmer durch den Staat trocknete der Kreditmarkt aus. Hier liegt das eigentliche, gesamtwirtschaftliche Problem, das von dem Eingangs zitierten Politiker nicht erkannt wurde.

Kreditpolitik und Sozialpolitik

Eine besondere Gefahr liegt in dem Versuch, über Kredite Sozialpolitik zu betreiben. Empirische Untersuchungen in Südasien haben gezeigt, daß es gerade die größeren Schuldner der Banken sind, die ihre Kredite nicht bedienen. Man kann hieraus aber nicht ableiten, daß arme Schuldner in jedem Fall die besseren Schuldner wären, wie die Erfahrungen des Korangi Pilot Projet in Karachi gezeiogt haben [Khan 1996 : 104].

Solche Entwicklungen könnten sich auch im Genossenschaftsbereich einstellen. Wir kennen - auch bei uns - das Problem der Solidarität und Mitgliederselektion. Eine relativ homogene Zusammensetzung der Mitgliedern scheint die beste Garantie dafür zu sein, daß Mitglieder ihre Vereinbarungen einhalten. Der bei uns in Deutschland lange geltende Grundsatz "Ein Dorf - eine Genossenschaft" ist unproblematisch, wenn ein Dorf aus gleich- oder ähnlich großen Betrieben besteht. Schwieriger ist es, wenn - wie häufig auf dem Subkontinent - in einem Dorf Groß-, Klein- und Kleinstbauern sowie Landlose wohnen, die zudem eine starre Sozialordnung trennt.

Der Staat als Kreditnehmer

Damit nicht genug, trat der Staat als Hauptnachfrager nach Kredit auf. Dies ist ein legitimes Unterfangen, soweit die Kredite zur Finanzierung von Investitionen eingesetzt werden; problematisch wird es, wenn der Staat damit staatlichen Konsum oder Transferleistungen (Subventionen) finanziert. Hier trifft der Vorwurf, daß heutiger Konsum von zukünftigen Generationen bezahlt werden muß. Da der Staat als Kreditnehmer an hohen Zinsen kein Interesse haben kann, ist die Versuchung groß, die Einlagenzinsen der staatlichen Banken niedrig zu halten mit der Folge, daß die Geldanlage bei den staatlichen Banken an Attraktivität einbüßt.

Dies um so mehr, als sich Anlagemöglichkeiten außerhalb des staatlichen Kreditwesens im informellen Sektor bieten. Um dennoch die Bereitschaft, dem Staat Geld zu leihen, zu fördern, wurden Anlegapapiere mit einer Steueramnestie (whitener bonds) ausgegeben: Der Staat verzichtete auf die Frage nach der Herkunft der Gelder und gewährte Strafbefreiung; die Steuerabschläge lagen unter den entsprechenden Steuersätzen. Die auf diese Weise mobilisierten Gelder wurden dem informellen Kreditwesen (resp. den internationalen Kapitalmärkten) entzogen.

In meinem Thema hatte ich gefragt, wie informell der formelle Sektor ist. Die Frage impliziert die Behauptung, daß der sog. formelle Sektor Züge trägt, die wir im informellen Sektor vermuten. Der Unterschied zwischen formellem und informellem Sektor liegt in der Einhaltung von Formen, wie sie etwa Verträge darstellen. Diese sind keineswegs an die Schriftform gebunden. Sektoren, wie etwa die staatlichen Banken, sind demnach nur auf den ersten Blick formell; soweit die Einhaltung der Verträge ungestraft arbiträr gehandhabt werden kann, ist der Ausdruck "formell" nicht mehr angemessen. Eine Kreditvereinbarung mit einem lokalen Geldverleiher, der Mittel und Wege hat, seine Außenstände einzutreiben, ist dann viel formeller, auch wenn es keinen schriftlichen Vertrag gibt.

Der Informelle Sektor

Lassen Sie mich zum Thema informeller Sektor noch etwas weiter ausholen: Es ist in den letzten Jahren in Mode gekommen, sich vom informellen Sektor Lösungen für die Probleme armer Länder zu erhoffen. Dies liegt im Trend der "Weniger Staat!"-Philosophie, die im Staat weniger Lösungspotential als eine Fesselung der Selbstheilungskräfte des Marktes sieht.

Das ist das genaue Gegenteil der Enwicklungsstrategien, die mit der Unabhängigkeit der vormaligen Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg aufkamen, und in denen ein starker Staat eine zentrale Rolle spielte. Dies führte sogar so weit, daß die westlichen Industrieländer von den Entwicklungsländern die Aufstellung von Wirtschaftsplänen forderten, die sonst als Ausdruck sozialistischer, zentraler Planwirtschaften galten. Dies alles ist nur verständlich, wenn man sich erinnert, daß am Ende des laisser faire der 20er Jahre die Weltwirtschaftskrise stand und der Staat überall auf der Welt initiativ wurde, um vor allem die Massenarbeitslosigkeit abzubauen.

Ideologie und Praxis klaffen seitdem auseinander: Während die westlichen Demokratien die marktwirtschaftlichen Tugenden priesen, griffen sie zu Hause einschneidend in die Wirtschaftsabläufe ein. Diese Tendenz war bei der Entwicklungspolitik der sog. Geber noch ausgeprägter.

Eine Variante des starken Staates war self-reliance, die Besinnung auf die eigenen Kräfte, verbunden mit einer Abkopplung vom Weltmarkt und - weniger aus ideologischen Gründen, als um eine einseitige Abhängigkeit (vom Westen) zu vermeiden - eine (teilweise) Anlehnung an die sozialistischen Staaten.

In den neuen Staaten der sog. Dritten Welt klaffen seitdem staatliche Gestaltungswünsche und tatsächliches Gestaltungsvermögen in z.T. grotesker Weise auseinander: ein Phänomen, das Gunnar Myrdal [1970 : 208-252] mit dem soft state umschrieb. Aus dem Unvermögen, die verordneten Regulierungen auch tatsächlich durchzusetzen, ergaben sich allerlei Zufälligkeiten, die die staatsnahen Gruppen begünstigten. Da sich hier die schnellsten Möglichkeiten der Gewinnerzielung ergaben, entwickelte sich ein rent seeking [Krueger 1974], etwa das genaue Gegenteil der Verwirklichung des Leistungsprinzips.

Es gab aber auch sehr erfolgreiche Beispiele staatlicher Intervention, vor allem in Ost- und Südostasien, die Ihnen allen bekannt sind.

Anfang der 70er Jahr begann man zu diskutieren, daß sich in vielen Staaten die Wirtschaft gerade da dynamisch entwickelte, wo sie von der staatlichen Ordnung nicht erfaßt wurde, im sog. informellen Sektor. Damit bot sich für die ehemaligen Kolonialmächte und neuen "Geber"die Möglichkeit, sich aus einer zunehmend ungeliebten Verantwortung zurückzuziehen und diesen Rückzug ökonomisch zu rechtfertigen. Dies traf sich besonders gut, da mit dem Ende des Ost-West-Konflikts das Interesse an den armen Ländern abnahm.

Die Diskussion des Leistungsvermögens des informellen Sektor leidet unter begrifflicher Unschärfe; eine einfach Einteilung der Wirtschaft in formell und informell ist kaum möglich. Das Denken in Gegensatzpaaren bietet zwar einige didaktische Vorteile, kann aber bei der Beschreibung der Realität hinderlich sein: Zu erinnern sei hier an die Dualismus-Theorien der 50er und 60er Jahre: Die Anlage von Plantagen (Indigo, Tee, Kaffee, Gummi) während der Kolonialzeit, häufig im Besitz von Ausländern, auf enteignetem Land, mit Zwangs- und Wanderarbeitern bedeutete einen scharfen Gegensatz zu traditionellen Agrarsystemen; Fremdkörper waren auch die sog. Enklavenwirtschaften, vor allem im Bergbau, auch dann noch, als nicht mehr Sklaven oder Zwangsarbeiter, sondern (freiwillige) Wanderarbeiter eingestellt wurden. Kraß war z.T. auch der Gegensatz von Stadt und Land oder zwischen Land- und Fabrikarbeit. Diese Gegensätze sind aber vielfach einem Kontinuum von Zuständen gewichen: so wie man in Kerala vom längsten Dorf der Welt spricht, das sich von einem Ende des indischen Unionsstaates bis zum anderen Ende erstreckt, oder die endlosen Vorstädte der großen Metropolen, an die sich über zig Kilometer Industriedörfer anschließen.

Die Landwirtschaft, die den größten Teil des sog. primären Sektors bildet, wird heute auch in den meisten armen Ländern von Industrie und Dienstleistungen in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung übertroffen. Dies gilt zumal bei der Wertschöpfung und ihrer Bedeutung für den Export; und selbst bei der Beschäftigung darf man ländliche Bevölkerung, also diejenige Bevölkerung, die nicht in den Städten lebt, nicht einfach mit Landwirtschaft gleich setzen. Selbst in Indien und Bangladesh, zwei noch wenig urbanisierten Ländern, gibt es einen ausgedehnten Dienstleistungsbereich auf dem Lande, der vom Handel bis zu den Hausbediensteten reicht.

Drei Kriterien bieten sich m.E. für eine an Unterscheidung von formellem und informellem Sektor an: (a) Legalität und Rechtsverbindlichkeit, (b) Information, ( c) Steuerbarkeit.

Legalität und Rechtsverbindlichkeit: Illegale Handlungen besitzen sicher keine Rechtsverbindlichkeit; rechtswidrige Handlungen können nicht den Schutz des Gesetzes genießen. Ist der Katalog der verbotenen, oder vielleicht auch nur nicht erlaubten, Handlungen umfangreich, die Versuchung groß und die Furcht vor Strafe gering, so entsteht automatisch ein großer informeller Sektor: Hohe Steuersätze, Kapitalverkehrskontrollen, ein ausuferndes Genehmigungswesen, verbunden mit einem schwachen Staat, bedeuten, daß sich ein Großteil der wirtschaftlichen Aktivitäten am Rande oder jenseits der Legalität entwickelt.

Aber auch dort, wo Rechtsgeschäfte legal und Abmachungen schriftlich fixiert sind, ist deren Verbindlichkeit gering, wenn keine Sanktionsmöglichkeiten bestehen, weil z.B. die Rechtsmittel nicht greifen, Gerichte überlastet sind und Urteile arbiträr gefällt werden.

Information: Häufig handelt es sich beim sog. informellen Sektor nur um ein Informationsproblem. So sprechen wir von informellen Krediten, wenn sie nicht von registrierten Kreditinstituten vergeben wurden. Das betrifft nicht nur den evtl. verbotenen, in der Praxis aber gar nicht so häufig vorkommenden professionellen Geldverleiher, sondern Großbauern und Händler mit ihren durchaus legalen kombinierten Waren- und Kreditgeschäften. Ein Beispiel wäre ein Kleinpächter, der zuweilen einen zinslosen Kredit von seinem Grundherrn bekommt, sich dessen Wohlwollen aber dadurch zu erhalten sucht, daß er für diesen (billig) arbeitet oder über ihn (unvorteilhaft) kauft und verkauft. Das Ausmaß dieser Transaktionen ist unbekannt und kann allenfalls der Größenordnung nach geschätzt werden.

Steuerbarkeit: Derartige Beziehungen sind vom Staat weder zu erfassen noch zu steuern. Günstige staatliche Kredite laufen in Gefahr, die Zielgruppe nciht zu erreichen.

Der formelle Sektor

Läßt sich der Grad der Formalität messen? Allenfalls indirekt. Korruption ist in den letzten Jahren ein Thema geworden. Indien und Pakistan weit oben auf der Liste der korruptesten Länder. Hatte man vor Jahrzehnten Korruption noch als Indiz der Reaktion auf Anreizmechanismen eher positiv aufgenommen, so hat sich jetzt die Einsicht durchgesetzt, daß eine kriminalisierte Wirtschaftsordnung nicht funktionieren kann. Wie ist dann die eingangs geschilderte Gleichgültigkeit gegenüber Kreditbetrug zu werten? Nur Resignation? Hätte es ohne solche Exzesse keiner Grameen Bank bedurft? Wohl nicht ganz. Die Abwesenheit von Klein-Krediten ist auch in nicht-korrupten Gesellschaften vorstellbar. Das Kreditangebot sollte aber in nicht-korrupten Wirtschaften größer sein, die Entwicklung des formellen Sektors schneller gehen.

Was bleibt unter diesen Bedingungen noch als formeller Sektor? Offensichtlich alles, was nicht informeller Sektor ist. Der formelle Sektor ist eine terminologische Restkategorie; der Begriff wird auch nie verwendet. Unausgesprochen gehen wir davon aus, daß Industriestaaten durch und durch formalisiert sind und auch in den Entwicklungsländern nur noch ein (kleiner) Teil den informellen Sektor bildet, zumal die Landwirtschaft bei der Diskussion des informellen Sektors gemeinhin ausgeklammert wird. Formeller Sektor wären in jedem Fall der Staat, die staatlichen Betriebe und die privaten Großbetriebe.

Man könnte auch den Teil der Wirtschaft als formellen Sektor bezeichnen, in dem die Bestimmungen des Arbeitsrechtes gelten: Kündigungsschutz, Zahlung des Mindestlohnes, Einhaltung der Bestimmungen über die Anstellung von quotengeschützten Gruppen (soziale, ethnische oder religiöse Gruppen), Gewährung von Sozialleistungen. Die gezahlten Löhne liegen deutlich über denen außerhalb des Sektors.

Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, daß der formelle Sektor auch Züge des informellen zeigen kann: Nicht alle Handlungen sind legal, Abmachungen nicht rechtsverbindlich; die Information läßt zu wünschen übrig und selbst dieses Segment der Wirtschaft kann nicht effizient gesteuert werden.

Ist der informelle Sektor formeller als der formelle Sektor?

Im Umkehrschluß kann der sog. informelle Sektor sehr formell sein: Ein bekanntes Beispiel wären drakonische Sanktionen bei der Nicht-Einhaltung von Kreditabmachungen im informellen Sektor.

Schlußbemerkungen

Lassen Sie mich zum Abschluß kommen: Angesichts der Mängel des Kreditwesens in Bangladesh hat Professor Yunus die Grameen Bank ins Leben gerufen, die im Laufe der Jahre zu einem großen Erfolg wurde und erst in ganz Bangladesh und später international Verbreitung fand.

In den letzten Jahren hat der Staat in Bangladesh und anderswo angefangen, sich aus dem Kreditwesen zurückzuziehen. In Pakistan hat man begonnen, Filialen auf dem Lande zu schließen, in Indien wird es sich nicht umgehen lassen. Ob deswegen auch der Agrarkredit zurückgehen wird, ist nicht gesagt. Das Beispiel der Industrieländer zeigt, daß Kreditprogramme für die Landwirtschaft nicht leicht zu beenden sind. Die Klientele der Grameen Bank dürfte davon nicht betroffen sein. Wahrscheinlicher ist der Versuch der Regierungen, auf die Arbeit der Grameen Bank Einfluß zu nehmen. Ein extremes Beispiel ist der Rückzug der Grameen Bank aus Afghanistan nach dem Vorwurf der christlichen Missionierung, der Beschäftigung von Frauen und dem Erheben eines un-islamischen Zinses [Naji 1997 : 4].

Re-Integration

Was bedeuten meine Ausführungen für die Re-Integration? Wenn es um Kredite geht, werden Sie in vielen Ländern ähnlich dastehen, als ob Sie, meine Damen und Herren, nach einem Studium in Deutschland einen Kredit brauchen. Die Verhältnisse scheinen sich aber zu bessern. Der Erfolg der Grameen Bank hat ein Um-Denken gefördert. In Indien und anderswo ist die Bankenaufsicht effizienter geworden. Im Zuge der sog. Liberalisierung der Wirtschaft wird allenthalben die Privatisierung der Banken betrieben. Die sich dabei einstellende Ernüchterung über ihre finanzielle Verfassung hat zum Beginn weitreichender Veränderungen im Kreditwesen geführt. Das wird die Klientele der Grameen Bank vorerst nicht berühren. Die sich abzeichnende Globalisierung im Kreditwesen dürfte zu international immer ähnlicheren Strukturen führen; dies sollte den Zugang zu Kredit in den Ländern Südasiens erleichtern.
 

Literatur:

Oskar Gans: A critical review of present macroeconomic and industrial policy. In: James G. Bennett (ed.):Private sector development in Bangladesh. Cologne: Oasis. 1991. pp.31-89.

Vijay Joshi, I. M. D. Little: India's economic reforms 1991-2001. Oxford: Clarendon. 1996.

Akhtar Hamee Khan: Orangi Pilot Project: reminiscences and reflections. Karachi: Oxford UP. 1996.

Anne O. Krueger: The political economy of the rent-seeking society. In: American economic review. 64(1974)3. pp. 291.303.

Gunnar Myrdal: The challenge of world poverty. A world anti-poverty program in outline. New York: Pantheon. 1970 (London: Allen Lane. 1970). xvii, 518 p.

Kasra Naji: Taliban ousts bank that lends to women. In: Finacial Times. Sep 16, 1997. p. 4.



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