Wolfgang-Peter Zingel
Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik

INDIEN - Sozialstruktur

Eine gekürzte Fassung erscheint in: Munzinger-Archiv / IH-Länder aktuell, Ravensburg. 15-16/98: Soziales und Kultur

Bevölkerung: Die Bevölkerung Indiens ist ethnisch, linguistisch und religiös heterogen wie die keines anderen Landes; alle großen Religionen der Welt sind vertreten. Wohl mehr als die Hälfte der Schriften der Welt werden auf dem Subkontinent geschrieben. Neben den Gruppen indoarischer Herkunft, deren Anteil - der Einordnung ihrer Sprachen folgend - auf 72 % geschätzt wird, stellen die Draviden (25 %) die zweite bedeutende Gruppe, die übrigen sind mongolide Völker im Himalajaraum sowie australoide Völker in den Bergregionen. Ethnische, religiöse und auch sprachliche Unterschiede verlaufen in Indien nicht selten parallel zu sozialen Gegensätzen, die sich in z. T. blutigen politischen Konflikten entladen.

Sprachen: In Indien wurden 1961 1.652 Sprachen unterschieden, sieben davon zählen zu den 20 meistgesprochenen Sprachen der Welt; die Verfassung erkennt 18 "gelistete" (scheduled) nationale Sprachen (seit 1992 auch Konkani, Manipuri und Nepali) an, darunter auch das praktisch nicht mehr gesprochene Sanskrit. Das weitverbreitete Englisch zählt nicht dazu, ist aber die lingua franca Indiens und wird als "assoziierte" Sprache im öffentlichen Leben und als Handelssprache benutzt. 24 Sprachen werden von mehr als einer Million Menschen gesprochen. 1981 hatten die wichtigsten Sprachen die folgenden Anteile: Hindi 39,9 % (einschließlich Rajasthani und Bihari), Telugu 8,2 %, Bengali 7,8 %, Marathi 7,5 %, Tamil 6,8 %, Urdu 5,3 %, Gujarati 5,0 %, Kannada 4,1 %, Malayalam 3,9 %, Oriya 3,5 %, Panjabi 2,8 %, Assamesisch 1,6 %. Das vor allem in Nordindien gesprochene Hindi ist (in Dewanagari-Schrift) Staatssprache.

Bevölkerungsstatistik: Die Bevölkerungszahl dürfte 1997 950 Mio. überschritten haben; im Jahre 2000 werden es 1 Mrd. sein. 1991 waren 846 Mio. Einwohner gezählt worden: 51,9 % Männer und 48,1 % Frauen; 36 % der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre. Zwischen 1981 und 1991 stieg die Einwohnerzahl um 163 Mio. bzw. 24 %, etwas langsamer als in der vorangegangenen Dekade. Die jährliche Bevölkerungswachstumsrate dürfte in der ersten Hälfte der 90er Jahre bei 1,81 % liegen und in der zweiten Hälfte auf 1,65 % fallen. Die Säuglingssterblichkeit ist nach indischen Angaben auf (1995) 74 gestorbene Kindern im ersten Lebensjahr je 1.000 Lebendgeburten gesunken; 33 % der Neugeborenen kommen (1990-94, UNDP) mit Untergewicht zur Welt, eine der höchsten Raten international.

Geburten- und Sterbeziffern
 
1961-70 1971-80 1981-90 1991-2000
Geburten je 1.000 Einw. 41,2 37,2 32,5 26,2
Gestorbene je 1.000 Einw. 19,0 15,0 11,4 8,9
Quelle: Statistical outline of India 1996-97. pp. 37-38.

Altersstruktur (% der Gesamtbevölkerung)
 
1951 1961 1971 1981 1991 1997
Unter 15 Jahre  38,3 41,0 42,0 39,7 36,3 33,8
15-60 Jahre 58,5 53,3 52,0 54,9 57,7 59,1
über 60 Jahre 3,2 5,7 6,0 5,5 6,0 7,1
Quelle: Statistical outline of India 1996-97. pp.37-40.

Die Lebenserwartung eines Neugeborenen erhöhte sich von 32 Jahren (1951) auf 60,4 Jahre für Männer und 61,2 Jahre für Frauen (1992/93); in anderen asiatischen Ländern, wie China und Sri Lanka, ist die Lebenserwartung um fast 10 Jahre höher. Es herrscht Männerüberschuß: auf 1.000 Männer kommen (1991) 927 Frauen.

Die Bevölkerungsdichte wuchs von 178 Einw./km2 (1971) auf 257 im Jahre 1991. Besonders dicht besiedelt sind Westbengalen mit 766 Einw./km2 und Kerala mit 746 Einw./km2, in Arunachal Pradesh sind es nur 10 Einw./km2. Die Urbanisieung ist noch niedrig im internationalen Vergleich: 26 % der Einwohner leben (1991) in den Städten.

Soziale Einrichtungen

Sozialgesetzgebung: Augenfälliges Merkmal der indischen Sozialordnung sind die extremen Gegensätze von Armut und Reichtum. Augenfälliges Merkmal der indischen Sozialordnung sind die extremen Gegensätze von Armut und Reichtum. Nach Angaben der Planungskommission ist der Anteil der Inder, deren Einkommen die Armutsgrenze (entspricht 2.400 Kcal) nicht erreichen, seit 1972/73 von 51,5 % auf (1993/94) 19,0 % gefallen: 21,7 % der Bevölkerung auf dem Lande und 11,6 % in den Städten; diese Angaben sind Tata Services zufolge aber evtl. revisionsbedürftig [SOI 1996-97 : 200]. In den Millionenstädten lebt fast ein Drittel der Bevölkerung in Slums. Die sich herausbildende Mittelschicht wird auf ein Zehntel bis ein Viertel der Bevölkerung geschätzt. Sie ist aber nicht mit der Europas vergleichbar und verfügt bei weitem nicht über deren Kaufkraft. Nach Angaben des indischen National Council of Applied Economic Research (NCAER) hatten 1993/94 rund 44 Mio. Haushalte, d.h. 28,2 % aller Haushalte, mit 250 Mitgliedern, jeweils ein Einkommen von über 40.000 Rs im Jahr, das waren damals - wenn man den offiziellen Wechselkurs ansetzt - weniger als DM 200,00 pro Haushalt im Monat; die Gruppe mit mehr als 500.000 Rs im Jahr machte nur 1,4 Mio. Haushalte (0,9 %) aus.
Statistical outline of India 1996-97. p. 202.

Die Weltbank hat ermittelt, daß 1989-90 die oberen 10 % der Bevölkerung 27,1 % der Konsumausgaben tätigten; auf die Verhältnisse von 1995 übertragen würde das bedeuten, daß etwa 90 Mio. Inder zusammen 45 Mrd US$ Konsumausgaben tätigen können (BIP in der Größenordnung von 250 Mrd. US$, privater Konsum 1992: 67 % des BIP); pro Kopf wären das 500 US$ im Jahr.

Das indische Nachrichtenmagazin India Today (15.4.1995) gibt eine Studie von S. L. Rao vom NCAER wieder: danach können 12 Mio. Haushalte mit etwa 65 Mio. Mitgliedern der verwestlichten Elite zugerechnet werden, 35 Mio. Haushalte mit 180 Mio. Mitgliedern der konsumorientierten Klasse, 50 Mio Familien mit 275 Mio. Mitgliedern den sozialen Aufsteigern, 20 Mio. Haushalten mit 150 Mio. Mitgliedern den Emporstrebenden und 40 Mio. Haushalte mit 200 Mio. Mitgliedern den Verarmten; die letzten beiden Gruppen erreichen die Armutsgrenze nicht. Dieselbe Quelle rechnet die Haushalte, die 1992/93 ein Jahresseinkommen bis zu 18.000 Rs erreichten, zur untersten Einkommensklasse, Haushalte mit 18.001 Rs bis 36.000 Rs zur unteren, mit 36.001 Rs bis 56.000 Rs zur mittleren und mit 56.001 Rs bis 78.000 Rs zur oberen Mittelklasse; Haushalte mit einem höheren Einkommen werden der Oberklasse zugerechnet. Nach dieser Einteilung beginnt die Mittelklasse bereits bei einem Monatseinkommen von umgerechnet weniger als 100 DM, die Oberklasse würde bereits bei unter 400 DM beginnen. Berichte über eine urbane Mittelklasse von 120 Mio. mit einem Einkommen von über 2.500 US$ pro Jahr oder ähnlich entbehren jeder Grundlage.

Die Studie des NCAER für 1992/93 schließt von der Existenz von 120 Mio. Armbanduhren, 75 Mio. Fahrrädern, 60 Mio. Kofferradios und 30 Mio. Fernsehern auf eine Klasse von 550 Mio. Verbrauchern; auch Arme sind wichtige Konsumenten von Seife, Waschmittel, Tee, Glühbirnen, Zahnpasta und Kosmetika.

138 Mio. Einwohner oder 16,5 % der Bevölkerung gehören (1991) den "gelisteten" (scheduled) Kasten an; sie sind die sog. "Unberührbaren". Weitere 68 Mio. oder 8 % sind Stammesbevölkerung. Für beide Gruppen gibt es eine Reihe von Schutzbestimmungen, die ihnen Chancengleichheit in der Politik, im Erziehungswesen und bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst sichern sollen. Die entsprechenden Quoten (reservations) sind für die Union und die Unionsstaaten, auch untereinander, verschieden und richten sich nach den jeweiligen Bevölkerungsanteilen. Sie sind seit Ende der 80er Jahre zu einem Politikum ersten Ranges geworden. Dazu bediente man sich der Berichte der nach ihrem Vorsitzenden benannten Mandal-Kommission, die bereits im April 1982 ihre Empfehlung dem Parlament vorgelegt hatte, diese Reservierung von 22,5 % um 27 % auszuweiten (nach einer Gerichtsentscheidung müssen die Reservierungen insgesamt unter 50 % bleiben), für die "sonstigen rückständigen Klassen" (other backward classes = OBC). Der Versuch, diese Empfehlungen durchzuführen, stieß auf den erbitterten Widerstand der "hohen" Kasten (Brahmanen, Rajputen und anderer), die traditionell das Bildungsbürgertum bilden und einen Großteil aller gehobenen Positionen in der Politik, im Erziehungswesen und im öffentlichen Dienst stellen; die Agitationen führten zum Sturz von Ministerpräsident V. P. Singh (1990).

Angriffe auf Angehörige niedriger Kasten nehmen zu, ebenso wie dowry deaths, Verbrennen junger Ehefrauen wegen zu geringer Mitgift, obwohl für Beschäftigte im öffentlichen Dienst das Zahlen einer Mitgift untersagt ist.

Die Verantwortung für die Schuldknechtschaft (bonded labour) und ihre Abschaffung liegt seit 1976 bei den Unionsstaaten; bis 1991 wurde eine Viertelmillion; ausgerottet ist die Schuldknechtschaft aber noch immer nicht.

Nur ein Teil der abhängig Beschäftigten hat eine Altersversorgung durch einen Provident Fund, in den Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Teilen Beiträge einzahlen. Die Wohnungsnot nimmt von Jahr zu Jahr zu, nicht nur in den Städten; im 8. Fünfjahresplan (1992-97) beziffert die Regierung die Zahl der fehlenden Wohnungen für 1991 mit 31 Mio., davon 21,2 Mio. auf dem Lande; für 2001 erwartet sie, daß sich diese Zahlen auf 41 Mio und 30,8 Mio. erhöhen. Allein in den vier größten Städten leben 15 Mio. in Elendsquartieren (slums), 40 % ihrer Bevölkerung, in Indien insgesamt (1990) 48,8 Mio. Wie viele davon als obdachlos zu bezeichnen sind, ist eine Frage der Definition; in Indiens Bahnhöfen leben wahrscheinlich Zigtausende. 1996 waren 82 % der ländlichen und 85 % der städtischen Bevölkerung an die Trinkwasserversorgung angeschlossen; 2,7 % resp. 47,9 % der Bevölkerung hatten (1992) Zugang zu Latrinen. Nur ein Teil der Haushalte hat Trinkwasseranschlüsse und Latrinen in der Wohnung, vielfach werden Gemeinschaftseinrichtungen benutzt.

Gesundheitswesen: Unter- und Fehlernährung, unzureichende Trinkwasserversorgung, mangelhafte hygienische Verhältnisse, eine hohe Schadstoffbelastung der Luft und Lärm beeinträchtigen die Gesundheit, so daß Krankheiten (vor allem bei Kindern) häufig tödlich enden. Spezifische Krankheiten entstehen durch Vitamin- und Mineralmangel (Erblindung, Anämie). Die vegetarische Ernährung bedeutet nicht automatisch - wie vielfach vermutet - Eiweißmangel und Fehlernährung, solange der Bedarf anderweitig, etwa durch Hülsenfrüchte, gedeckt wird. Hülsenfrüchte haben aber nicht die Steigerungen der Flächenproduktivität wie Getreide erlebt und sind oft durch Marktfrüchte (cash crops) ersetzt werden. Insoweit besteht ein enger Zusammenhang zwischen Agrarproduktion, Einkommensverteilung und Gesundheit. Neben den Mangelkrankheiten werden durch die schlechten hygienischen Bedingungen Parasitenbefall und Infektionen begünstigt. In der Folge von Überschwemmungen nach dem Monsun treten häufig Epidemien auf - nicht selten von Krankheiten, die als ausgerottet galten: 1994 gab es in Maharashtra nach dem Erdbeben Fälle von Beulenpest; in Surat (Gujarat) kam es zu tödlichen Fällen der Lungenpest, die eine Massenflucht von Hunderttausenden auslöste. Daß es zu keiner größeren Pestepidemie kam, könnte an dem massiven Einsatz von Antibiotika liegen; es scheint aber noch nicht geklärt zu sein, ob es sich nicht um einen anderen Erreger mit einem ählichen Krankheitsverlauf handelte. Es gibt 3 Mio. Leprakranke, davon sind 15 bis 20 % ansteckend. 12 Mio. Menschen sind blind. Kala-Azar ist in Westbengalen und Bihar endemisch; verschiedentlich tritt die Japanische Enzephalitis - mit einer Mortalitätsrate von 30 % bis 45 % - auf. Die indische Regierung hat 1986 ein Programm zur Eindämmung der Immunschwächekrankheit AIDS begonnen. 1979 wurden wieder Pockenerkrankungen registriert; die Malaria ist auf dem Vormarsch, weil die Stechmücken gegen die Insektizide resistent geworden sind und natürliche Feinde wie z. B. Frösche, in großer Zahl dem Export zum Opfer gefallen sind; 1991 gab es 1,8 Mio. Erkrankungen. Häufige Todesursachen sind Durchfallkrankheiten, Krebs, Erkrankungen der Atemwege und Herzkrankheiten, vor allem bei der städtischen Bevölkerung.

Medizinisches Personal: Indische Ärzte zählen z. T. zur Weltspitze; dies gilt besonders bei Transplantationen, die wegen des verbreiteten Organhandels umstritten sind; die indische Regierung hat hier 1995 regulierend eingegriffen. Die Spitzenmedizin ist aber für die wenigsten erhältlich, selbst eine normale ärztliche Versorgung beschränkt sich auf einige Viertel der großen Städte. Auf dem Lande ist die medizinische Versorgung weit geringer als die Arztdichte (1 Arzt je 2.460 Einw.) vermuten läßt. Es gibt auch weit weniger (registrierte) Krankenschwestern als (registrierte) Ärzte. 1991 gab es für je 1.316 Einw. 1 Krankenhausbett; zwei Drittel der Betten sind in staatlichen Krankenhäusern. An den 171 medizinischen Fakultäten nehmen (1988-89) jährlich 14.700 Personen das Medizin-Studium auf, viele von ihnen emigrieren nach Abschluß des Studiums. Die Zahl der ausgebildeten Krankenschwestern belief sich 1989 auf 207.783. Pro Jahr werden an 286 Schwesternschulen 7.266 Schwestern und etwa 6.000 Hilfskrankenschwestern mit Hebammenschulung ausgebildet. Zur Bekämpfung der verbreitetsten Krankheiten hat die Schnellausbildung von medizinischen Hilfskräften begonnen, deren Zahl 1987 bei 110.190 lag. Die indische Regierung fördert die traditionellen Heilsysteme wie Ayurveda, Siddha, Unani, Amchi, Tibetische Medizin, Naturmedizin, Yoga und Homöopathie. In diesem Zusammenhang hat sie Schritte unternommen, die Qualität der Ausbildung und Forschung, die Entwicklung der Heilpflanzen, Festlegen pharmakologischer Standards und das Testen der Arzneien zu verbessern. Bei der allgemeinen Gesundheitsversorgung kommt der traditionellen Medizin eine große Rolle zu.

Rechtsordnung: Die in den letzten zwei Jahrhunderten aufgebaute anglo-indische Gesetzgebung bildet - mit gewissen Anpassungen an heutige Verhältnisse - noch immer die Grundlage der Rechtsprechung. Durch Ausrufung des äußeren Notstandes 1971 in Zusammenhang mit der Bangladesh-Krise, des inneren Notstandes 1975 sowie einer Reihe von Verfassungsänderungen waren die Grundrechte des Bürgers stark eingeschränkt; mit Aufhebung des inneren Notstandes am 21. März 1977, des äußeren am 27. März 1977 wurden diese weitgehend wieder hergestellt, die Verfassungsänderungen schrittweise 1978 rückgängig gemacht. Nach ihrer Wiederwahl im Jan. 1980 weitete Indira Gandhi die Befugnisse der Exekutive wieder aus, im Gegensatz zu ihrer vorhergehenden Amtsperiode aber nicht durch Verfassungsänderungen.

Nach den Unruhen im Punjab wurden der Punjab und Chandigarh am 7. Oktober 1983 durch Präsidialerlasse zu Unruhegebieten erklärt und die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Menschen zu schießen; auch das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung wurde aufgehoben. In Abänderung des Gesetzes über die nationale Sicherheit von 1980 verlängerte der sofort inkrafttretende Präsidialerlaß vom 5. April 1984 sämtliche Fristen zu Ungunsten der Festgenommenen.

Ein weiterer Präsidialerlaß vom 14. Juli 1984, später als Gesetz angenommen, ermächtigte die Zentralregierung, bestimmte Gebiete (ohne Kaschmir) für 6 Monate zu Unruhegebieten (terrorist-affected area) zu erklären und dort Sondergerichte einzurichten, deren Richter ebenfalls von der Zentralregierung mit Zustimmung des betreffenden Obergerichts bestellt werden. Am 23.5.1995 lief das berüchtigte Ausnahmegesetz zur Bekämpfung des Terrorismus (TADA) aus.

Am 23. Juli 1984 wurde der Punjab wieder zum Unruhegebiet erklärt. Obwohl sich Rajiv Gandhi nach seinem Wahlsieg 1984 um eine Lösung des Problems bemühte, sah er sich 1985 gezwungen, den Staat direkt von Delhi verwalten zu lassen. 1992 wurde wieder ein Parlament gewählt; seitdem hat sich die Lage etwas entspannt.

Gerichtsverfassung: Im Gerichtswesen ist der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) letzte Berufungsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen der Obergerichte (High Court) der Staaten und von durch Obergerichte zur letztinstanzlichen Berufung freigebenen Urteilen niederer Instanzen. Nach Rückgängigmachung (Dez. 1978) der diese Befugnisse einschränkenden 42. Verfassungsänderung kann der Oberste Gerichtshof wieder über die Rechtmäßigkeit von Verfassungsänderungen und Gesetzen befinden; entsprechend prüfen die Obergerichte die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen des jeweiligen Staates und sind für die Urteile untergeordneter Instanzen je nach Kategorie letzte oder vorletzte Berufungsinstanz. In der primären Rechtsprechung verhandeln sie in Strafsachen meist als Schwurgericht. Untergeordnete Instanz sind die Courts of Session(etwa Distriktgerichte) und Courts of Magistrates (etwa Friedensgerichte), darunter auf Dorfebene Panchayat-Gerichte. Die Exekutive hat in subtiler Form Einfluß auf das Gerichtswesen genommen; per Exekutivverordnung können Richter der Obergerichte auch gegen ihren Willen versetzt werden; bei der Einsetzung von Richtern der Obergerichte durch den Staatspräsidenten ist der Rat des Oberrichters des betreffenden Obergerichts nur noch gleichrangig mit dem des Gouverneurs des Unionsstaates.

Religion: Indien ist nach seiner Verfassung ein säkularer Staat (Präambel: "sovereign socialist secular democratic republic"), in dem die Freiheit des Gedankens, des Ausdrucks und des Glaubens, der Glaubenstreue und der Glaubensausübung ("belief, faith, and worship") gesichert sind; niemand darf aufgrund seiner Religion diskriminiert werden (Art. 15). Der überwiegende Teil der Bevölkerung sind Hindus: nach der Volkszählung 1991 83 %; 10,9 % waren Muslime (hauptsächlich Sunniten), 2,4 % Christen (mehr als die Hälfte Katholiken), 1,9 % Sikhs, 0,7 % Buddhisten und 0,5 % Jainas, dazu 120.000 Parsen, etliche Bahai und eine kleine jüdische Gemeinde.

Das Kastensystem bestimmt noch immer in starkem Maße das ökonomische und soziale Leben (siehe auch unter soziale Einrichtungen). Politische Auseinandersetzungen haben vielfach einen religiösen Hintergrund; religiöse Spannungen sind aber nicht unbedingt der (alleinige) Grund; sie werden von den verschiedenen Fraktionen geschürt: dies gilt für die Uruhen im Punjab und in Kaschmir, aber auch für die Hindu-Muslim-Auseinandersetzungen; 1989 nahmen die Auseinandersetzungen um die "Babri-Masjid-Ram-Janmabhumi", ein von Muslimen und Hindus beanspruchtes Heiligtum in Ayodhya (Uttar Pradesh), zu; am 6.12.1992 stürmten Hindu-Fundamentalisten die Moschee und zerstörten sie; in den folgenden Tagen wurden bei Unruhen mehrere hundert Personen getötet; die Regierung verbot (zeitweise) fünf radikale religiöse Organisationen: drei hinduistische (Rashtriya Swayamsevak Sangh(RSS), Vishwa Hindu Parishad (VHP), Bajrang Dal) und zwei muslimische (ISS, Jamaat-e-Islam).

Volksbildung: Die Erziehungspolitik wird gemeinsam von der Zentralregierung und den Unionsstaaten formuliert; bei der Zentralregierung liegen Koordination, Aufsicht über die 13 "zentralen" Universitäten und die Förderung der wirtschaftlich schwächeren Gesellschaftsgruppen. Schulverwaltung ist Angelegenheit der Unionsstaaten.

Obwohl Art. 45 der Verfassung die Schulpflicht für alle Kinder von 6-14 Jahren vorschreibt, bestehen in 10 Bundesländern keine entsprechenden Gesetze. Der Schulbesuch der unteren Primarstufe (Kl. 1-5) ist in den staatlichen Schulen gebührenfrei, der Besuch der anschließenden oberen Primarstufe (Kl. 6-8) jedoch in drei Unionsstaaten nicht. Der Aufbau eines einheitlichen Schulsystems wird sowohl durch die Vielfalt an Sprachen und Religionen als auch durch die Kastenzugehörigkeit erschwert. Der Zensus 1991 ergab, daß 47,89 % der Inder über 15 Jahren Analphabeten sind (im Zensus 1981 noch 63,83 %; 1951 83,4 %). Die absolute Zahl der Analphabeten stieg von 302 Mio. 1981 auf 324 Mio. 1991. Vor allem die Frauen, die ländliche Bevölkerung, die sog. Unberührbaren und die Stammesbevölkerung haben noch einen großen Rückstand aufzuholen. Auf der anderen Seite wurde im Unionsstaat Kerala eine fast völlige Alphabetisierung erreicht: 94 % der männlichen und 86 % der weiblichen Bevölkerung, 7 Jahre und älter, konnten 1991 lesen und schreiben gegenüber 52 % und 23 % in Bihar.

Die meisten Schulen im Sekundarbereich haben das sog. 3-Sprachen-Schema implementiert, nach dem neben der jeweiligen Regionalsprache Englisch und in Südindien Hindi, in Nordindien eine südindische Sprache gelehrt werden.

Die 1968 beschlossene Umstellung des Bildungssystems auf 10+2+3 Jahre ist nicht von allen Unionsstaaten vorgenommen worden.

Schulen: Der Schulbesuch hat in den letzten Jahren zugenommen und liegt heute (1995-96) zum Teil "über 100 %": die Zahl der Schüler ist größer als die Zahl der Kinder im entsprechenden Alter, weil Kinder z.T. erst später zur Schule geschickt werden. Bei den Grundschulen (Klassen 1-5) beträgt er 104 %, bei den Mädchen immerhin 93 %; auf der Mittelschule (Klassen 6-8) sind es 68 % und 55 %.

Schulen und Schulbesuch 1995/96
 
Einrichtungen 1.000 Schüler
Grundschulen 590.421 109.734
Mittelschulen 171.216 41.041
Oberschulen 98.134 24.889
Hochschulen 10.467 6.349
Quelle: The Statesman's Year-Book 1997-98. p. 657.

Hochschulen: 1992/93 gab es 5.334 allgemeinbildende (general) Colleges, 989 berufsqualifizierende (professional) Colleges sowie 207 Universitäten; sie hatten im Studienjahr 1992-93 (graduate and above) 4,8 Mio. Studenten. Die technischen und naturwissenschaftlichen Einrichtungen bilden etwa ein Fünftel der Studierenden aus: 1988-89 hatten die 1.085 technischen Hochschulen (engineering and technical colleges) 491.679 Studenten, die 3.736 Ingenieurschulen (engineering and technical schools) 368.205, die 128 medizinischen Hochschulen (medical colleges) 13.062 (Angaben unvollständig) und die 43 zahnmedizinischen Hochschulen 1.664. Die Zahl der Hochschulen und Studenten beträgt in jedem Fall ein Mehrfaches der 50er und 60er Jahre; die Tendenz ist steigend.

Erwachsenenbildung: Die Erwachsenenbildung zielt hauptsächlich auf eine Alphabetisierung der ländlichen Bevölkerung. Die Regierung hofft hier vor allem auf die Breitenwirkung des Gemeinschaftsfernsehens als Unterrichtsmedium. Ein Spezialprogramm zur (Frauen-)Alphabetisierung in mehreren Staaten seit 1988 war in Kerala überaus erfolgreich, in Rajasthan dagegen kaum.


Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen, Fragen an : h93@ix.urz.uni-heidelberg.de

Weitere Informationen zu Indien: Wirtschaft, Neuere Literatur, Zeittafel
Zurück zur Hauptseite von W.-P. Zingel