Wolfgang-Peter Zingel
Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Abteilung internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik

BHUTAN - Soziales und Kultur
eine frühere Fassung erschien in "Munzinger-Archiv", Ravensburg

Bevölkerung: Die Bevölkerungszahl ist umstritten und ein Politikum ersten Ranges. In Ermangelung einer Volkszählung legte die Nationalversammlung 1960 die Einwohnerzahl mit 700.000 fest; die Zählung von 1969 erbrachte 1,0 Mio., 1988 wurden offiziell 1,375 Mio. Einwohner geschätzt; Internationale Organisationen nennen z.T. entsprechend höhere Zahlen: Weltwährungsfond (1992) 1,61 Mio., Vereinten Nationen (UNDP - 1993) 1,6 Mio., FAO (1993) 1,65 Mio., CIA (1995) 1,78 Mio. Die Regierung von Bhutan hat ihre Zahlen inzwischen revidiert und nennt für 1996 eine um mehr als die Hälfte geringere Zahl: 600.000. Als Erklärungen für die früheren überhöhten Zahlen werden u.a. angegeben, daß der damalige König glaubte, daß die Aufnahme in die Vereinten Nationen (1971) nur Staaten mit wenigstens 1 Mio. Einwohnern möglich sei, oder daß eine höhere Einwohnerzahl den Umfang der Entwicklungshilfeleistungen positiv beeinflussen würde. Auf der internationalen Bhutan-Konferenz in London 1993 wurde die Einwohnerzahl auf der Grundlage der Sprachenverteilung auf 600.000 geschätzt; Dissidenten halten dem entgegen, daß die Zahl der Nepali-Sprecher unterschätzt wurde und die Einwohnerzahl eher bei 700.000 bis 800.000 liegen dürfte (D. N. S. Dhakal and Christopher Strawn: Bhutan - a movement in exile. Jaipur, 1994. S. 47-51). Die Weltbank schätzt die Bevölkerungszahl für 1994 auf 675.000.

Bhutan stellt keine ethnische Einheit dar. Die Bevölkerung kann in folgende Hauptgruppen eingeteilt werden: Tibeto-Mongolen, Indo-Mongolen und Indo-Arier. Bhutia (oder Bhuta) ist der Ausdruck für Himalayastämme. Als Urbewohner des Landes werden vielfach die in Zentralbhutan lebenden Monpas bezeichnet. Sieht man von den Nepalis ab, so sind die überwiegend im Osten des Landes lebenden Sharchops die zahlreichste Gruppe; sie dürften zu den frühesten (vermutlich zugewanderten) Bewohnern zählen. Ab Ende des 19. Jhs. wurde der Süden des Landes von zumeist nepalesischen Einwanderern, die dem Hinduismus anhängen (s. a. Religion), besiedelt; der Anteil der ethnischen Nepalis (Gurkhas) an der Gesamtbevölkerung Bhutans wird in den verschiedenen Quellen von der Regierung mit bis zu 33 % und von den Dissidenten mit bis über 50 % angegeben; die Volkszählung von 1988 soll einen Anteil von 45 % erbracht haben. Zu den langansässigen Nepalis kommen die jüngst in großem Ausmaß - illegal - zugewanderten hinzu; sie sind in den fünf südlichen Distrikten offenkundig in der Mehrheit. Nach der Vertreibung und Flucht von zehntausenden von Nepalis aus Bhutan nach Nepal und Indien haben sich die Relationen verschoben. Die "Initiative für südasiatische Kooperation" setzte 1995 eine Kommission (Naik/Weerakon 1995) zur Untersuchung des Bhutan-Nepal-Problems ein, der die Regierung Bhutans aber keine Genehmigung zur Einreise erteilte; sie geht von einer Bevölkerungsverteilung von bis zu 20 % Ngalungs, 37 % Sarchops (z.T. Tibeter) und 45 % (Nepali sprechende) Lhotshampas aus.

Es gibt fünf verschiedene linguistische Gruppen; Nationalsprache ist Dzonghka, Handelssprache Englisch.

Bevölkerungsstatistik:Die Vereinten Nationen (UNDP) geben für 1993 die jährliche Geburtenrate mit 39,8 und die Sterberate mit 15,2 pro 1.000 Einwohner im Jahr an, sowie eine Bevölkerungswachstumsrate von 2,1 % im Durchschnitt der Jahre 1993-2000. Die offizielle Wachstumsrate ist 3,04 %. Die Lebenserwartung eines Neugeborenen liegt bei 51 Jahren. 6 % der Bevölkerung wohnen (1993 - nach UNDP) in den Städten, 94 % auf dem Lande.

Bevölkerungsbewegung: Die 1959/60 nach Bhutan gekommenen 6.300 tibetischen Flüchtlinge wurden vergleichsweise gut integriert: Im Sept. 1985 hatten 4.206 Personen die bhutanische Staatsbürgerschaft erworben, 1.633 waren nach Indien ausgewandert. Die Einwanderung von Nepalis einerseits und Überfremdungsängste und der Versuch einer zwangsweisen Integration im Zuge der Bhutanisierungspolitik der Regierung andererseits führten zu Spannungen, die in den blutigen Unruhen vom 19.-23. Sept. 1990 kulminierten. Der Aufstand der nepalesischen Gurkhas im benachbarten Darjeeling/Indien, die Unruhen in Assam, die der Wiedereinführung der Mehrparteiendemokratie in Nepal vorangegangenen Unruhen und die auf fruchtbaren Boden fallenden Vorstellungen eines "Groß-Nepal" bzw. "Gurkha Homeland", Süd-Bhutan einschließend, verstärkten die Besorgnis der Regierung. Die im sechsten Entwicklungsplan (1987-1992) proklamierte Schaffung und Stärkung einer eigenen bhutanischen Identität und die politisch-praktische Inangriffnahme dieses Ziels führte zu den Maßnahmen im Jahre 1988 und der im Frühjahr 1989 einsetzenden "Bhutanisierungskampagne", einem Programm zur (Neu-)Verfestigung der Hegemonie der traditionell dominierenden buddhistischen Kultur (Driglam Namzha, Lamdro Lungsoel, d. h. Etikette und Verhaltensvorschriften etc., Kleidervorschriften, Sprachenpolitik). Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1985 schrieb vor, daß jeder, der nicht beweisen konnte, daß er schon vor 1958 nach Bhutan eingewandert war oder später das Bürgerrecht erworben hatte, ausgewiesen wurde. Der Zensus von 1987 und 1988 galt wesentlich der Ermittlung von "Non Nationals" bzw. der sich nach dem neuen Rechtsverständnis illegal im Lande aufhaltenden Personen. 1987 wurden 113.000 auszuweisende Personen ermittelt und 1988 23.700. Der König bezifferte die Zahl der ethnischen Nepalis auf 28.000, alle anderen seien illegale Einwanderer.

1989/90 nahm die Fluchtbewegung aus Südbhutan infolge der rigorosen Durchsetzung der Regierungspolitik und aus Furcht vor Repressalien zunehmend größeres Ausmaß an; die südbhutanischen/nepalesischen Flüchtlinge, unter denen sich auch Oberschüler und ehemalige Angehörige der Armee und der Polizei befanden, sammelten sich in Lagern auf grenznahem indischen Territorium. Die dem (1989 gegr.) "People's Forum for Human Rights" nachfolgende (1990 gegr.) "Bhutan People's Party" (s. Parteien) entwickelte sich zu einer Untergrundarmee. 1990 gab es fast täglich Übergriffe auf südbhutanisches Gebiet mit Einschüchterungen, Zerstörungen, Terrorakten etc. Die blutigen Ereignisse vom 19.-23. Sept. 1990 wurden zu einer besonders dramatischen Eskalation, zu einer offenen Revolte, bei der einige Tausend Demonstranten an mehreren Stellen der Grenze nach Südbhutan eindrangen. Bei den folgenden Gewaltakten soll es zahlreiche Tote gegeben haben (nach R. Machanda/New Delhi in der Far Eastern Review vom 3. Okt. 1991: 325 Tote). Weitere Unruhen folgten, vor allem Mitte 1991.

Die Vertreibung wurde Ende 1991 und Anfang 1992 forciert. Im Oktober 1993 kam es mit indischer Vermittlung zu einem Abkommen zwischen Bhutan und Nepal; danach sollen die Flüchtlinge in die folgenden Kategorien eingeteilt werden: Bhutanesen, Emigranten aus Bhutan, Nicht-Bhutanesen und Bhutanesen, die in Bhutan eine Straftat begangen haben. Im Mai 1995 lebten etwa 87.000 Personen, die große Mehrheit von ihnen Nepali-Sprecher aus dem südlichen Bhutan, in 8 Lagern in den Distrikten Jhapa und Morang im Südosten Nepals.

Gesundheitswesen:Ausländische Beobachter rühmen an Bhutan das ausgezeichnete Basisgesundheitswesen. Die Lebenserwartung ist allerdings mit 51 Jahren immer noch niedrig; die Säuglings- und Kindersterblichkeit (1993) mit 122 respektive 193 je 1.000 und die Müttersterblichkeit mit 1.600 je 100.00 Lebendgeburten gehören zu den höchsten der Welt. 38 v.H. der Kinder bis zu 5 Jahren leiden an Untergewicht. 1 Arzt muß 11.111 und eine Krankenschwester 6.667 Einwohner versorgen. Soweit sich diese Kennziffern der UNDP an überhöhten Einwohnerzahlen orientieren, stellen sie die Lage allerdings zu ungünstig dar. 1996 gab es 27 Krankenhäuser, 85 Basis-Gesundheitsstationen, 55 Apotheken, 466 Polikliniken (outreach clinic), 19 Malariazentren und 3 Ausbildungsstätten. Bei einer Krankenhausbetten-Gesamtzahl von 970 kommt ein Bett auf 688 Einw. - unter Annahme der geringeren Bevölkerungszahlen.

Erstrangiges Ziel der Gesundheitspolitik der Regierung ist es, bis zum Jahre 2000 die meistverbreiteten Krankheiten zu eliminieren: Parasiten, Magen- und Darmkrankheiten, Malaria, TBC, Lungenentzündung, Kropf. Ein "basismedizinischer Gesundheitsdienst" bildet den Kern des öffentlichen Gesundheitssystems. Die Versorgung Alter, Kranker und Invalider erfolgt vornehmlich innerhalb der Familie/Sippe. Neben der modernen wird auch der traditionellen Medizin große Beachtung gewidmet. Im Haushalt 1995/96 wurden 417 Mio. NU oder 8,9 % der öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen veranschlagt.

Recht und Justiz: Das Zivil- und Strafrecht ist kodifizert; eine Konsolidierung der geltenden Gesetze erfolgte 1982. Jeder Distrikt hat einen Gerichtshof. Berufungen gehen an den 1968 geschaffenen, generell dafür zuständigen Obersten Gerichtshof mit acht Richtern. Höchste richterl. Berufungsinstanz ist der König. Geringfügige Streitfälle ziviler Art können vom Dorfvorsteher entschieden werden. Alle Bürger haben das Recht, sich über das am Hof befindliche Amt des Gyalpoi Zimpon mit einem informellen Ersuchen direkt an den König zu wenden. Änderungen sowohl des Zivil- als auch des Strafrechts sind in der Diskussion.

Religion: Staatsreligion ist der Mahayana-Buddhismus tibet. Prägung/Lamaismus, insbesondere in der Form der Drukpa Kargyü-Sekte. Oberhaupt ist derzeit Je Khenpo Jigme Choedra; er ist der gewählte oberste Abt - Je Khenpo - der 1.160 Mönche umfassenden 'Zentralen Körperschaft der Mönche' sowie Vorsitzender des 'Dratshang Lhentshog' (s. u.). Die Distrikt-Körperschaften der Mönche umfassen ca. 2.120 Mönche. Der Je Kempo und die insges. ca. 3.300 (ordinierten) Mönche spielen eine wichtige Rolle auch im öffentlichen und politischen Leben. Wichtigstes Kloster ist Tashichho-Dzong (bei Thimphu); wichtigste organisatorische Institution für den Klerus ist das 1984 gegründete 'Dratshang Lhentshog' (ehem. 'Central Monastic Secretariat', 1989 umbenannt in 'Council for Ecclesiastical Affairs'), unter dessen Oberaufsicht sich alle religiösen Körperschaften befinden. Der Hinduismus ist speziell im Süden des Landes verbreitet; seine Anhängerschaft bilden insbes. die Nachfahren der Einwanderer aus Nepal und Indien seit dem 19. Jahrhundert sowie die zahlreichen, erst in jüngster Zeit zugewanderten Nepalis. Der Anteil der Hindus bzw. ethn. Nepalis/Gurkhas etc. wurde nach der Volkszählung von 1988 auf 45 % beziffert, die bhutan. Buddhisten auf 48 % und andere auf 7 %. Hindu-Feste werden eingehalten. Die Regierung ist - im Zuge ihrer Integrationspolitik - um die Schaffung eines religiösen Einheitsgefühls bemüht.

Volksbildung:Die Analphabetenrate der Erwachsenen wird von der UNESCO für 1995 mit 58 % angegeben: Männer 44 %, Frauen 72 %. 1996 wurden 84.160 Schüler von 2.515 Lehrern unterrichtet. Das 1986 gegründete "Royal Institute of Management" inkorporiert zwei bestehende Handelsschulen. Die Erwachsenenbildung umfaßt eine Vielzahl von Weiterbildungsangeboten in den Bereichen Landwirtschaft, Gesundheitswesen, Büroarbeiten etc.

Bezogen auf 1988 waren im Primar- und Sekundarschulbereich zusammengenommen 18 % (männl. 22 %, weibl. 13 %) der im betreffenden schulpflichtigen Alter befindlichen Jugendlichen angemeldet; separat betrachtet waren in der Primarstufe, die mit dem 6. Lebensjahr beginnt und 6 Schuljahre dauert, 26 % (männl. 31 %, weibl. 20 %) und in der Sekundarstufe, die mit dem 12. Lebensjahr beginnt und 5 Schuljahre dauert, 5 % (männl. 7 %, weibl. 2 %) angemeldet. 1991 wurden die 1989 ins Leben gerufenen - einklassigen - Extended Classrooms (ECR) in Community Schools umbenannt. 1996 besuchten 53.095 Schüler die Primarstufe, davon 56 % Mädchen; 20.520 Scuüler die Sekundärstufe, davon 43 % Mädchen. 9.257 Schüler besuchten die Community Schools, davon 43 % Mädchen. Am Sherubtse College waren in den beiden "Post Secondary Classes" 198 männl. und 46 weibl. Jugendliche; die dreijährigen "Degree Classes" wurden von 210 männl. und 39 weiblichen Studenten besucht.

Anfang der neunziger Jahre wurde die Zahl der (im Rahmen des Colombo-Plans) zur akademischen Ausbildung im Ausland befindlichen Studierenden auf etwa 500 beziffert. Die Studienländer sind vor allem Indien, Japan, Australien, Neuseeland, Singapur, die Schweiz, Großbritannien und die USA.

Bis Mitte dieses Jhs. waren Klöster alleinige Bildungsstätten; das heutige Erziehungswesen resultiert aus den Reformbestrebungen König Jigme Dorji Wangchuks (Regierungszeit 1952-1972). Um dem ernsten und wachsenden Mangel an qualifizierten Lehrkräften abzuhelfen, sind Freiwillige und Lehrer aus meist englischsprachigen Ländern im Einsatz. Das 1980 mit 20 Freiwilligen begonnene 'UN Volonteer Programme' soll erweitert werden, die bereits in zentralen Bereichen wie Erziehung, Gesundheit, Maschinentechnik, Tierzucht, Landwirtschaft und Stadtplanung eingesetzt sind. Der Schulbesuch ist (im wesentlichen) kostenlos, aber nicht obligatorisch; im allgemeinen wird ein auf britischen und indischen Vorbildern basierender Lehrplan befolgt; Koedukation ist üblich; Englisch ist Unterrichtssprache, Dzongkha Pflichtfach. Nepali wurde 1989 als Unterrichtssprache an den Schulen untersagt. Die Bildungspolitik steht im Zeichen der Politik des Königs zur Schaffung einer eigenen bhutanischen Identität und der Integrierung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und allgemein der Förderung des Selbstbewußtseins; sie ist gekennzeichnet insbesondere durch die Einrichtung nationaler Institutionen für das Bildungswesen, durch Revision von Curricula zugunsten einer stärkeren Betonung nationaler Inhalte, praktischer und technischer Fächer etc.

Nachdem im Sinne dieser Zielsetzungen 1984 eine staatliche Behörde für Sekundarerziehung und Ausbildung geschaffen worden war, wurde 1986 ein revidiertes Curriculum für den Primarschulbereich "New Approach to Primary Education" (NAPE) eingeführt; 1991 wurde NAPE auf alle Primarschulen und "Junior High Schools" ausgedehnt. Es erfolgte auch eine zunehmende Loslösung von indischen Lehrern und deren Lehrmethoden.



Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen, Fragen an den Bearbeiter: h93@ix.urz.uni-heidelberg.de


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