Basler Zeitung, 28. Mai 1999, Nr. 121, Seite 4

Kaschmir-Konflikt gibt Räsel auf

Von Indien und von Pakistan wird der Kaschmir-Konflikt für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert, sagt Wolfgang-Peter Zingel vom Südasien-Institut der Universität Heidelberg im Gespräch mit der BaZ. Undurchsichtig ist, welche Motive und Interessen hinter den jüngsten Kampfhandlungen stehen.

BaZ: Weshalb spitzt sich die Lage in Kaschmir gerade jetzt wieder zu?

Zingel: Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ich habe heute morgen in einer indischen Zeitung eine Aussage von K. Subrahmanyam gelesen, der als einer der aussenpolitischen Vordenker des Landes und allgemein eher als Falke eingestuft wird. Er warnt davor, die indischen Luftangriffe einfach so zu interpretieren, dass nun eine gestürzte Regierung versuchen würde, von den innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken und Wahlkampf zu machen.

Welche anderen Deutungen gibt es?

Vor exakt zwei Jahren haben der damalige indische Premier Gujral und Pakistans Regierungschef Sharif Gespräche geführt und es hat sich eine damals sehr verheissungsvolle Annäherung angekündigt. Unmittelbar danach kam es zu einer Verschärfung der Kampfhandlungen in Kaschmir. Das wurde so gedeutet, dass es auf beiden Seiten Kreise gibt, denen eine solche Annäherung überhaupt nicht passt. Die damaligen Kampfhandlungen wurden als ein Warnzeichen an die jeweiligen Regierungen interpretiert.
Wir können in Indien und in Pakistan nicht davon ausgehen, dass wir eine geschlossene politische Führung haben und das Militär mitziehen würde, oder dass umgekehrt das Militär die Politik bestimmt. Die gängige Annahme ist die, dass Indien eine zivile Regierung hat und die Armee nur ausführendes Organ ist, während in Pakistan im Grunde genommen die Armee im Hintergrund die Fäden zieht. Das muss aber nicht so sein, und es ist durchaus möglich, dass die einzelnen Teilnehmer in diesem politischen Spiel versuchen, ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen.

Wer hat denn ein Interesse an einer Eskalation?

Ob es wirklich ein Interesse an einer Eskalation gibt, weiss ich nicht. Mir ist aufgefallen, dass die indische Seite in letzter Zeit versucht hat, die Botschaft zu verkünden, dass der Kaschmir-Konflikt im Grunde genommen ausgestanden und von Indien auch mehr oder weniger gewonnen sei. Die Hoffnung, dass das Coming Out Indiens und Pakistans als Atommächte und ihr Potential an Abschreckung stabilisierend wirken würden, hat sich jedenfalls nicht erfüllt. Praktisch unmittelbar nach den Atomtests vor einem Jahr gingen die Kämpfe weiter, sogar mit verstärkter Intensität.

Indien wirft Pakistan vor, die muslimischen Rebellen im indischen Teil Kaschmirs zu unterstützen. Wie stichhaltig sind diese Vorwürfe?

Moralische Unterstützung aus Pakistan ist auf jeden Fall da. Inwieweit diese Unterstützung darüber hinaus geht, den Rebellen in Pakistan ein Rückzugsgebiet zu gewähren, kann ich nicht sagen. Ich habe auch niemanden getroffen, der mir hätte bestätigen können, dass es Ausbildungslager gibt. Die Pakistaner selber sehen es so, dass es einen originären Freiheitskampf der Muslime in Kaschmir gibt.

Am 20. Februar hatten sich die Regierungschefs Indiens und Pakistans getroffen und eine Politik der Entspannung angekündigt. Weshalb ist daraus nichts geworden?

Ich hatte nicht den Eindruck, dass das damals ein von langer Hand vorbereitetes Gespräch war. Mir ist es eher wie ein Überraschungscoup der Inder vorgekommen. Die Sache kam blendend an in Indien, während die Pakistaner eher überrascht waren. Die Begeisterung war also nicht ungeteilt.

War das Treffen vom 20. Februar also eher ein Theatercoup als eine echte politische Weichenstellung?

Wahrscheinlich beides. Natürlich gibt es auf indischer und auf pakistanischer Seite den Wunsch nach einer Verbesserung der Beziehungen. Die Frage ist nur zu welchen Bedingungen. Zugleich fürchten beide Seiten, dass der Konflikt ausser Kontrolle geraten könnte.

Welches ist Ihre Einschätzung der jüngsten Kampfhandlungen? Ist das nur eine temporäre Verschärfung des schon lange andauernden Kleinkrieges oder tritt der Konflikt in eine neue Phase?

Ich erwarte nicht, dass der Konflikt nun in eine neue Phase tritt. Ich teile die Einschätzung, dass mit der Kaschmir-Frage in beiden Ländern in grösstem Masse Innenpolitik betrieben wird. Daraus ergeben sich Interessen, den Konflikt weiter am Köcheln zu halten. Die vorherrschende Meinung ist, dass der Konflikt unter schwachen Regierungen an Intensität zunimmt.

Welche Möglichkeiten der internationalen Einflussnahme sehen Sie, um die Spannungen zu entschärfen?

Geringe. Man muss vor der Vorstellung warnen, dass das Ausland den Konflikt lösen kann. Beide Länder haben Politiker mit vorzüglichen Fähigkeiten und Kenntnissen. Wenn Indien und Pakistan der Meinung sind, die Dinge ändern zu wollen, dann können sie das sehr leicht ohne Dritte bewerkstelligen.

Interview Markus Lohr



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