Basler Zeitung, 22./23. März 1997, Nr. 69, Seite 7
 

"Den Zankapfel Kaschmir wird keiner ohne Not aufgeben"

Die beiden südasiatischen Erzfeinde Indien und Pakistan wollen nächste Woche ihre vor drei Jahren abgebrochenen Gespräche wiederaufnehmen. Der Dialog sei um so dringender, als die Teilung des [Sub-]Kontinents vor einem halben Jahrhundert, drei Kriege und unüberbrückbare Gegensätze im Fall Kaschmirs ein Zusammenrücken beider Ländern in fast unvorstellbarer Weise erschwerten, meint Wolfgang-Peter Zingel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Südasien-Institut der Universität Heidelberg, im Gespräch mit der BaZ.

BaZ: Die Regierungen in Delhi und Islamabad wollen in der kommenden Woche einen neuen Dialogversuch beginnen. Das erste Treffen soll auf der Ebene der Staatssekretäre in Delhi stattfinden. Für den Mai ist ein Gipfeltreffen zwischen den beiden Ministerpräsidenten Deve Gowda und Nawaz Sharif geplant. Warum die plötzliche Gesprächsbereitschaft beider Regierungen?

Wolfgang-Peter Zingel: Pakistan und Indien werden vor allem von den USA zu einem Dialog gedrängt. Es ist nicht abzusehen, wie es zu einer dauerhaften Entspannung in Südasien kommen soll, wenn die beiden Nachbarn nicht miteinander reden und sich immer wieder an den Rand eines Krieges bewegen.

BaZ: Weshalb sind gerade die USA an einem Dialog interessiert?

WPZ: Die USA denken - ungeachtet aller Vorwürfe der Konzeptionslosigkeit und Widersprüchlichkeit - eher global als andere Mächte: Nach dem Zerfall der Sowjetunion droht an die Stelle der alten bipolaren Ordnung eine Vielzahl von mittleren und kleinen, nur schwer kontrollierbaren Konflikten zu treten. China war schon vorher eine Weltmacht; der Nahostkonflikt ist von eminenter innenpolitischer Bedeutung in den USA; bisher haben sich China, die islamischen Staaten und Israel in keinem der Kriege auf dem Subkontinent hineinziehen lassen; die wollen die USA auch für die Zukunft erreichen.

BaZ: Sind es in erster Linie wirtschaftliche Gründe?

WPZ: Die wirtschaftlichen Interessen der USA werden in Südasien nur indirekt tangiert: Viel interessanter sind die Märkte der Schwellenländer Ost- und Südostasiens und die Energiereserven Südwest- und Zentralasiens; sie wären gefährdet, wenn sich der Konflikt in Südasien ausweitet; von der Bevölkerungszahl her ist Südasien auch ein vielversprechender Wirtschaftspartner. Sorgen machen das nukleare Wettrüsten in Südasien und - typisch für ein Spannungsgebiet - der internationale Rauschgift- und Waffenhandel.

BaZ: Gibt es weitere Gründe für die Dialogbereitschaft Indiens und Pakistans?

WPZ: Gründe für die Dialog gibt es viele, vor allem wenn man bedenkt, daß es sich jeweils um den wichtigsten Nachbarn handelt; die Grenze ist auch unhistorisch und teilt Gebiete, die im Laufe der Geschichte immer eng verbunden waren. Die Teilung des Subkontinents vor einem halben Jahrhundert, drei Kriege und unüberbrückbare Gegensätze im Falle Kaschmirs erschweren aber ein Zusammenrücken in fast unvorstellbarer Weise. Man darf auch nicht vergessen, daß der Konflikt viele Familien auseinandergerissen hat. In Pakistan gibt es in allen Kreisen unendlich viele Leute, die in Indien Verwandte haben, die sie nicht besuchen dürfen. Das ist schwerwiegender als beispielsweise wirtschaftliche Gründe. Ein gewisser Druck zum Dialog zwischen beiden Staaten kommt daher auch aus der Bevölkerung.

BaZ: Der Zankapfel zwischen Indien und Pakistan - Sie haben es kurz erwähnt - ist Kaschmir. Wie gehen beide Staaten an das Kernproblem heran?

WPZ: Den Zankapfel Kaschmir wird keiner der beiden Kontrahenten ohne Not aufgeben. Die Regierungen in Islamabad und Delhi lassen aber den Kontakt nicht abreissen; eine Politik kleiner Schritte wird umso erfolgreicher sein, wenn die Regierungen über solide Mehrheiten verfügen. Das ist zur Zeit nur in Pakistan der Fall.

BaZ: Um so stärker ist der Einfluß der Armee in Pakistan. Die Wahl Nawaz Sharifs zum Premier vom vergangenen Februar paßt offensichtlich den Militärs ins Konzept.

WPZ: Tatsächlich muß die Regierung in Islamabad mehr Rücksicht auf die Armee nehmen. Anders ist die Rolle des Militärs in Indien, die im Ausland oft unterschätzt wird: Das Land unterhält eine der größten Armeen der Welt, ist in den letzten Jahren als international größter Waffenimporteur aufgefallen und forcierte den Ausbau der Flotte und die Entwicklung von Mittelstreckenraketen. Aber auf der anderen Seite zählt Indien zu den ganz wenigen Staaten der Dritten Welt, in denen das Militär nicht offen in die Politik eingegriffen hat. Das Primat der Politik wird in Indien von den Militärs anerkannt.

BaZ: Für die Menschenrechte hat das indische Militär in Kaschmir aber nicht viel übrig, wie die US-Menschenrechtsorganisationen "Asia Watch" oder Amnesty International immer wieder berichten.

WPZ: Dergleichen Vorwürfe werden von der indischen Regierung gleichermassen bestritten, wie ihre Überprüfung erschwert wird. Dies betrifft aber nur das offizielle Indien; die Presse berichtet immer wieder über Übergriffe.

BaZ: Zu Kaschmir bestehen zwischen den beiden Staaten unterschiedliche Auffassungen. Pakistan fordert eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit Kaschmirs, was Indien ablehnt.

WPZ: Darüber, daß der Streit um Kaschmir das Haupthindernis auf dem Weg zu besseren Beziehungen zwischen den Nachbarn darstellt, dürfte keine unterschiedliche Auffassung bestehen; wohl aber über die Notwendigkeit der Herstellung einer "Parität", die Pakistan mit Indien, ander[er]seits Indien mit China sucht.

BaZ: Was heißt das konkret?

WPZ: Das heißt: Pakistans Verteidigungsanstrengungen sind nach Ende der sowjetischen Invasion in Afghanistan einseitig auf Indien ausgerichtet. Pakistan, das zu China traditionell in einem guten Verhältnis steht, fühlt sich in seiner Existenz durch Indien bedroht und hat entsprechend aufgerüstet. Indien fühlt sich von Pakistan bedroht, aber nicht in seiner Existenz; dafür steht es sozusagen einer zweiten Front gegenüber, nämlich China. Nach der chinesischen Besetzung Tibets im Jahre 1950 [1959] verschlechterte sich die Beziehung zu Peking sehr schnell. 1962 kam es zum Grenzkrieg mit China, den Indien blamabel verlor. Trotz des sich jetzt bessernden Verhältnisses zu China ist die Niederlange vor 35 Jahren noch nicht vergessen und ist einer der Gründe für die beträchtlichen Verteidigungsanstrengungen Indiens. Sie liegen weit über denjenigen, die notwendig waren, um gegen Pakistan Krieg zu führen.

BaZ: Was halten Sie von der These, daß eine Entspannung in der Kaschmir-Frage den Status quo fördert und dieser Indien bevorzugt?

WPZ: Dieser These muß man nicht zustimmen; zu klären wäre erst einmal, was die beiden Seiten unter Entspannung verstehen. Auf indischer Seite nimmt man an, daß der Aufstand in Kaschmir ohne tatkräftige Unterstützung Pakistans zusammenbrechen würde; falls dies nicht eintrete, wäre die indische Position erheblich geschwächt.

BaZ: Ein erster Schritt zur Entspannung in Kaschmir wäre sicherlich eine Lösung der Siachen-Problematik?

WPZ: Ja, ein erster Erfolg wäre die Einstellung der andauernden Kampfhandlungen auf dem teilweise über 6500 Meter hohen Siachen-Gletscher, dem höchsten Kriegsschauplatz der Welt. In diesem Grenzgebiet zu China ist keine Waffenstandslinie demarkiert, hinter die sich die Streitkräfte zurückziehen könnten; es wäre ein erster Fortschritt, wenn die beiden Armeen auf eine Besetzung des Gletschers verzichten würden.

BaZ: Sollte der internationale Druck für die Lösung des Kaschmir-Konflikts erhöht werden?

WPZ: Von einer internationalen Einflußnahme sollte man sich bei einem Abbau der Spannungen nicht zuviel erwarten; die beiden Länder sich auch alleine imstande, sich einander anzunähern, wenn sie es wollten. Das Droh- und Druckpotential des Auslands sollte man bei einer solch zentralen Angelegenheit realistisch einschätzen. Auch bei kleineren Konflikten hat es nicht viel bewirkt.

BaZ: Welche Auswirkungen hätte eine Entspannung zwischen Indien und Pakistan für die Region?

WPZ: Die Dialog-Auswirkungen auf die Region kann man gar nicht überschätzen: ohne eine Beilegung des indisch-pakistanischen Konfliktes wird die Südasiatische Kooperation (SAARC) wenig bewirken können: ein regionaler Zusammenschluß ohne Pakistan, wie er gerade von indischer Seite betrieben wird, würde noch mehr unter der Hegemonie Indiens leiden.

BaZ: Könnte eine Annäherung auch zur Abrüstung beider Staaten führen, insbesondere auch zur Lösung der Atom-Frage? WPZ: Soweit dieser Konflikt den Anlasse für das Wettrüsten in Indien und Pakistan bildet, könnte in Abbau der Spannungen auch zu einem Abrüsten führen. Ob das Militär in beiden Ländern klaglos die Einbussen an Macht und Geld hinnehmen wird, muß bezweifelt werden. Indien hat immer wieder darauf hingewiesen, wie wenig es gerechtfertigt sei, daß den einen Ländern verwehrt ist, was den anderen erlaubt ist, und hat deshalb den Atomwaffensperrvertrag abgelehnt. Pakistan hat seine Bereitschaft, auf Atomwaffen zu verzichten, stets davon abhängig gemacht, daß Indien dies auch tut.

BaZ: Wie groß sind überhaupt die Chancen, daß zwischen Indien und Pakistan ein Entspannungsprozeß in Gang kommt?

WPZ: Stephen Cohen, ein renommierter Sicherheitsexperte für Südasien, hat vor wenigen Tagen anläßlich eines Seminars im Südasien-Institut der Universität Heideberg erklärt, daß er fest davon ausgehe, daß die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan derzeit so gut seien, daß er glaube vorhersagen zu können, daß es in den nächsten fünf Jahren zu keinem Krieg zwischen den beiden Ländern kommen würde. Ob dies so sein wird und es sogar zu einer Annäherung kommen wird, dürfte von vielen Faktoren abhängen. Auch wenn die beiden Regierungen prinzipiell an einer Besserung der Beziehungen interessiert sind - nicht zuletzt, weil sie mit diesem Konflikt ihre Wirtschaft ruinieren -, sind sie doch immer wieder der Versuchung ausgesetzt, den Konflikt aus innenpolitischen Gründen über ein kalkulierbares Maß hinaus anzuheizen. Vielleicht stellen sie aber auch fest, daß sie die innenpolitische Bedeutung des Konflikts überschätzt haben, und wagen eine Deeskalation.

Interview Peter Zweifel


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